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Zu:   „Die ewige Mitternacht“  (mit einer weiteren Leseprobe)

       
     
       
     

Die ewige Mitternacht  -  Leseprobe2

       
     
       
     

Ein Projekt nähert sich dem Ende:   „Die ewige Mitternacht“ 

Nun ist unser neues Buch, „Die ewige Mitternacht“, also fertig geschrieben. Alles in allem wurden es doch über 500 Seiten, anderenfalls hätte sich nicht hineinverweben lassen, was im Hintergrund der Geschichte steht. Dabei wurden, um des Konzepts willen, einige Teile, die zu sehr in die Tiefe gegangen wären, herausgelassen. Wir werden diese aber Interessierten dennoch zugänglich machen (ggf. in CN-com).

Es ist aber auch noch nicht so weit, denn nun wollen 524 Seiten auf Tippfehler korrigiert sein, und das ist nicht wenig Arbeit. Allzu lange wird es aber nun doch nicht mehr dauern, und dann hoffen wir, mit diesem Buch mancher Leserin und manchem Leser Freude zu bereiten.

So hat ein Projekt, das weniger umfangreich angepeilt gewesen war, nun doch so viel Eigendynamik entwickelt, das mehr daraus wurde als ursprünglich angenommen. Da Arbeiten wie diese naturgemäß parallel zum allgemeinen Broterwerb zu geschehen haben, hat sich durch die Ausweitung der „Mitternacht“ die Arbeit am Nachfolgebuch zu Z-Plan verzögert, dieses neue Buch wird hoffentlich im kommenden Frühjahr fertig sein, sofern die Alltagsarbeit genug Zeit dafür läßt.

„Die ewige Mitternacht“ hat sich aber wohl zu einem Objekt entwickelt, das der Mühe lohnend war. Die dramaturgische Umsetzung in Briefen, resp. E-Mails, vermittelt einen sehr unmittelbaren Eindruck des Miterlebens, und dieses Buch soll ja auch spannende Unterhaltung bieten. Freilich bedeutete diese Vorgehensweise auch, ganz unterschiedliche Schreibstile anzuwenden; etwa den groben des Kommissars Kamarek, den peniblen der Hellseherin Caroline, den distinguierten der Nora Behling oder den sachlichen des Alberto Daconti usw. Das aber kann dem Buch eine geradezu filmische Lebhaftigkeit geben. Ein hoch literarisches Werk zu sein, beansprucht es schließlich nicht.

Das Konzept dieses Projekts, von dem wir schon sprachen, ist insofern nicht ganz einfach zu realisieren gewesen, wie zwei Bücher in einem entstehen sollten: Zum einen für „Normalsterbliche“ als spannender Krimi mit ein paar unterschiedlich auszudeutenden mystischen Aspekten – zum anderen ein Buch, daß darüber hinaus Aussagen beinhaltet, die Menschen mit Vorkenntnissen zu verstehen wissen.

Über den Ausgangspunkt haben wir schon berichtet. Die bewußte Anhalterin hat es wirklich gegeben, und diese überreichte auch tatsächlich ein verblüffendes Skript.

Um dieses Motiv herum setzt aber nun die Romanhandlung ein. Die Nachforschungen des alten Kriminalkommissars aus Hamburg, welche die Leitschiene der Geschichte bilden, sind als solche frei erfunden. Wir könnten vielleicht sagen: Das Buch zeichnet ein Bild dessen, was hätte sein können, wenn …

Ein paar Auszüge werden wir hin und wieder hier anbieten, so weit diese auch für sich etwas aussagen. Das trifft beispielsweise für die nachstehende Sequenz zu, in welcher der Psychiater dem Kommissar darlegt, wie leicht das anscheinend Logische und als real Anzunehmende genau dies nicht ist.

Darum geht es auf einer Ebene dieses Buchs: Welche Sicht auf das Geschehen ist die richtige: Die anscheinend Wirkliche – oder eine „wirklichere Wirklichkeit“?

Für den Unbedarften verläuft die Handlung auf der Ebene des täglichen Lebens – für den weiterdenkenden Menschen bietet sich jedoch stets eine zweite Ebene an, noch subtiler als die Erzählung von Dr. Kraus es darstellt; und es wird sich zeigen, daß bis zur letzten Zeile beide Ebenen gleichermaßen ihre Möglichkeit erweisen und es unmöglich ist, zu sagen, allein diese oder allein jene Sicht sei die richtige.

Nach außen hin wird letztlich ein Kriminalfall gelöst. Das ist die Ebene der allgemein faßbaren Welt. Niemand aber weiß schließlich zu sagen, ob die viel wichtigeren Ereignisse sich nicht auf der anderen Ebene abspielten, deren mögliche „zweite Realität“ auch Kommissar Kamarek längst bewußt geworden ist.

Es ist gar nicht einfach gewesen, all dies so zu schreiben, daß alles gesagt wurde was zusagen war, und gleichsam alles nicht konkret ausgesprochen wurde, was angedeutet werden und doch unausgesprochen bleiben mußte, um dem Ermessen der Leserin und des Lesers den nötigen Spielraum zu lassen.

Dieses Buch ist insofern ein Experiment, wie es in dieser Form möglicherweise noch nie unternommen wurde. Ob es gelungen ist und sich bewährt? Das muß sich zeigen, wir hoffen es jedenfalls!

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Leseprobe:  „Die Ewige Mitternacht“

Die ewige Mitternacht  -  Collage1

Auszug aus dem Buch

 

E-Mail von Hauptkommissar Horst Kamarek, Hamburg

an Alberto Daconti, Mailand

 

Lieber Herr Daconti,

 

also ich denke, daß die vorige Grübel-Nacht produktiv war!

Und inzwischen habe ich auch Neues, einerseits von hier und andererseits auch aus Berlin. Davon erzähle ich gleich noch.

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Heute früh hatte ich daher sozusagen die Eingebung, zu aller erst noch mal mit dem Dr. Kraus zu reden. Wenn, wie ich glaube, sich alles um das Schütz-Vermögen dreht, müssen wir die Ausgangspunkte der einzelnen Personen näher kennen.

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Ich legte die Dinge jeweils knapp dar, ließ nichts aus, nicht mal die schräge Hellseherin, alles kam auf den Tisch. Nachdem das vor ihm ausgebreitet lag, sozusagen, überließ ich es Dr. Kraus, womit er anfangen wollte. Ich sagte nur, die Zielrichtung sei, alles auszusortieren, was nicht real ist, dafür aber in die realen Dinge richtig einzuordnen, was aus dem Unrealen entspringt, sich aber real auswirkt. Ich hoffte, er hatte’s verstanden, ich gab mir alle Mühe, mich nach besten Kräften gewählt und gleichzeitig unmißverständlich auszudrücken.

Dr. Kraus ließ sich erst mal zwei bis drei Minuten Zeit, dachte nach, lehnte sich in seinem Sessel zurück, dachte weiter nach, schwenkte in dem Sessel hin und her, dachte immer noch nach. Unterdessen versuchte ich, irgendetwas besonders Markantes in seinem Arbeitszimmer zu entdecken, doch es war nichts Ungewöhnliches da. Bloß viele Bücher in vielen Regalen an den Wänden. Sein Schreibtisch war beinahe leer, nur eine dunkle Schreibunterlage und ein Notizblock, ein Telefon mit Gegensprechanlage und ein silberner Apfel. Den konnte man wahrscheinlich aufklappen und als Aschenbecher benutzen. Neben dem Schreibtisch stand ein altmodisches Gestell auf Rollen mit Hängeordnern aus brauner Pappe, brechend voll.

Ich wartete, daß Dr. Kraus etwas sagen würde, aber er sinnierte noch weiter in die Luft hinein. Den Eindruck bot’s jedenfalls. Endlich setzte er sich ruhig und gerade und fing an zu reden, ungefähr so:

„Zuerst möchte ich Ihnen sagen, daß es in allem Grenzwerte gibt. Das betrifft auch die Realität. Was ist real? Sagen wir beispielsweise: Das Zimmer hier ist real, in dem wir uns gerade befinden. Objektiv richtig. Aber sehen und empfinden Sie und ich darin die gleiche Realität? Dort rechts an der Wand hängt ein Bild. Es zeigt die heilige Cäcilie, die Schutzpatronin der Musikanten. Ich bin Musikliebhaber, sehe ich das Bild an, kommen mir Klänge von Bach und Mozart in den Sinn. Diese erfüllen unhörbar und doch in meinen Gedanken präsent den Raum - für mich. Ein nächster Betrachter erkennt in dem Bild die Heilige. Für ihn wird der Raum von einem sakralen Flair erfüllt. Ein anderer empfindet historisierend Romantik. Noch ein anderer sieht einfach nur eine hübsche Frau hier in dem Raum. Jede dieser Empfindenswelten ist eine subjektive Realität. - Das war ein simples Muster, es ließe sich zu immer zunehmender Komplexität ausweiten. Sie verstehen, was ich damit gleich eingangs sagen will: Die absolute Realität gibt es nicht, es kann sie nicht geben!

Nun, sprechen wir zuerst über Hanna Schütz.“

Kraus kritzelte auf seinem Notizblock Linien und Muster ohne hinzusehen, während er sprach:

„Was war Hanna Schütz widerfahren:

Im Alter von wohl 21 Jahren begleitete sie ihren Vater und dessen Assistenten, der ihr Verlobter war, auf einer Fahrt nach Kroatien. Sie wissen davon, ich kann also einiges auslassen. Auf dieser Fahrt war es zu einer Unterbrechung gekommen, weil die Wissenschaftler etwas besichtigen wollten. Die somit verspätete Weiterfahrt führte in die Dunkelheit hinein. Das Wetter war unfreundlich, zwischenzeitlich ein Gewitter, und es regnete Bindfäden. In einem kleinen Ort, noch verhältnismäßig weit vor Zagreb, war ein Übernachtungsquartier vorbestellt worden, wo man sich auch mit einem kroatischen Kollegen verabredet hatte. Es hieß, von der Hauptstraße abzubiegen und eine von dem eben erst abgeflauten Regenguß aufgeweichte Nebenstraße zu befahren. Es gab keine Straßenlaternen, der Mond stand hinter Wolken. Trotzdem beschleunigte der junge Mann am Lenkrad, Hannas Verlobter, die Fahrt. Der luxuriöse Wagen verfügte über einen starken Motor, er erreichte eine selbst für heutige Zeit gute Geschwindigkeit. Neben dem Fahrer saß das Mädchen, dem zu imponieren der junge Mann vielleicht auch im Sinn hatte. Die beiden Professoren sprachen auf der Rücksitzbank über den Aberglauben der ländlichen Bevölkerung, die von Dämonen wissen wollte, welche das verborgene Grabmal des Hunnenkönigs beschützten (nach dem sie suchen wollten).

Inzwischen herrschte tiefe Nacht. Es waren kaum noch mehr als sechs Kilometer bis zum Ort und zu dem Gasthof. Der junge Fahrer gab umso mehr Gas. Im Gasthof mag man sich Sorgen bereitet haben, ob die erwarteten Gäste den Weg auch fänden, es war ja schon über die vereinbarte Zeit. Das Naheliegende war, ihnen ortskundige Hilfe entgegen zu schicken, vielleicht die ältere Tochter der Wirtsleute. Mittlerweile war starker Wind aufgekommen, dieser hatte den Mond von den Wolken befreit. Die kurvenreiche Strecke wurde dadurch kaum übersichtlicher, sie führte an nur silhouettenhaft erahnbaren Felsen und Abgründen entlang. Der Wagen raste über die rutschige, unebene Straße. Hinter einer Kurve sah der Fahrer ganz plötzlich die Wirtstochter auf dem Wege, die mit einem solch schnellen Wagen nicht rechnete. Den Fahrer durchzuckte ein Schreck. Um die Frau dort nicht zu überfahren, riß er das Lenkrad herum, nicht sehend, daß er in eine Schlucht hineinsteuerte. Es folgten sich überschlagende Augenblicke! Bei der unwillkürlichen Bemühung, sich festzuhalten, öffnete Hanna aus Versehen die Wagentür und fiel aus dem stürzenden Fahrzeug. Der Boden war an dieser Stelle weich, sie verletzte sich nicht. Das Auto aber prallte wenig tiefer gegen einen findlingähnlich aufragenden Fels und zerschellte. Oben am Wegesrand stand die Wirtstochter. Der Mondschein zeigte ihr, was geschehen war. Was sollte sie tun? Zu helfen versuchen! So stieg sie hinab in die Schlucht. Zuerst fand sie Hanna. Sie neigte sich zu ihr und sagte auf Deutsch, das dort durch die KuK-Zeit verbreitet war, sie solle sich nicht fürchten, sie bringe ihr Hilfe. Hanna sah das Gesicht der Wirtstochter, die sehr hübsch war. Durch den starken Wind und das Klettern hatte sich ihr langes Haar aufgelöst. So sah Hanna sie vor dem Mond am Himmel, ehe sie das Bewußtsein verlor.

Die Wirtstochter unterdessen, nachdem sie auch das Autowrack rasch angesehen hatte, eilte in den Ort, um Hilfe herbeizuholen.

In der Zwischenzeit erwachte Hanna aus ihrer Ohnmacht. Sie entdeckte den verunglückten Wagen und begab sich dorthin. Noch halb benommen, ließ sie sich auf dem Beifahrersitz nieder, neben ihrem toten Verlobten und vor den zwei gleichfalls toten Männern im Fond. Es war eine mechanische Handlung, sich dorthin zu setzen, wo sie zu sitzen gewohnt war. So saß sie regungslos und gedankenleer, bis sie in dem verunglückten Wagen gefunden und dieser geborgen werden konnte.“

Dr Kraus legte eine Pause ein, nickte leicht mit dem Kopf und sprach weiter:

„Sehen Sie, so könnte man jenes Ereignis als ‚eine Realität’ beschreiben, die ‚Hand und Fuß’ hat. Ob es sich im Einzelnen so verhielt, weiß ich nicht. Die Wirtstochter habe ich soeben erfunden! Auch, daß Hanna aus dem Wagen und auf weichen Boden fiel und erst nachher wieder, sich aufraffend, zum Wrack ging und auf den Beifahrersitz stieg, dachte ich mir gerade aus! Aber wie ich Ihnen das Ereignis eben darstellte, werden Sie es als ‚real’ empfinden – obwohl, nein: weil! ich an entscheidenden Stellen geschwindelt habe!

Für Hanna hat es sich ganz anders zugetragen! Für sie wurde Realität, wovon die beiden Wissenschaftler auf der Rücksitzbank sprachen: Da war der Volksglaube, demnach Dämonen verhindern wollten, daß es jemals gelinge, das Grab von König Attila aufzufinden... Und dann stand solch ein Dämonenwesen ganz plötzlich vor ihnen, in der Gestalt einer schönen Frau, halb aus dem Nichts und halb aus dem Mondlicht gekommen! Ein Wink mit der Hand genügte dieser ebenso schönen wie schrecklichen Dämonin, um ihr Werk zu tun. Allein Hanna wurde von ihr verschont, weil sie keine Ausgräberin war, und das flüsterte ihr die Dämonin ins Ohr.“

Dr. Kraus unterbrach sich abermals und ließ eine halbe Minute verstreichen, während der er weiter auf seinem Notizblock herumkritzelte und ein Spinnennetz malte. Endlich nahm er den Faden erneut aufnahm:

„Nun, sehen Sie, diese Version erschiene den meisten Menschen unreal, sie würde in keine Polizeiakte Aufnahme finden. Aber diese ist frei von Schwindelei!

Betrachten wir jetzt aber, was die spärlichen Fakten aussagen, die mit Gewißheit über das Ereignis bekannt sind:

Der Wagen raste ungebremst in die Tiefe, zerschellte schließlich an einem Felsen. Die drei männlichen Insassen wiesen alle schwere Verletzungen auf, sie waren vermutlich im Augenblick des Aufpralls tot. Hanna hingegen war körperlich vollkommen unversehrt, obwohl sie auf dem Beifahrersitz neben dem Fahrer saß. Sie war auch kaum verschmutzt, nicht so, wie wenn sie aus dem Wagen in die aufgeweichte Erde gestürzt wäre. Von einer Person auf der Fahrbahn gab es keine Spur. Und das ist jener teil der Realität, der objektiv feststeht! Daß Hanna überlebte, und ohne physische Verletzungen, war auf alle Fälle zumindest ein Wunder – womit wir auch schon wieder bei einer anderen Sicht angelangt wären.

Wenn Sie nun beide Versionen auf Ihren Schreibtisch gelegt bekämen, die mit den wirklichen Fakten, also die zweite, oder jene erste, die ich mir weitgehend ausgedacht habe und die von den sichtbaren Fakten nicht gestützt werden kann, aber dafür schlüssig erscheint – welcher würden Sie zuneigen?“

Er lächelte und deutete wieder ein Kopfschütteln an: „Nein, ich erwarte darauf keine Antwort von Ihnen. Ich weiß es auch so!

Und das führt uns nun zum Schlüssel des Ganzen: der Art der Betrachtung. Für Hanna Schütz gab es ihre Realität, die für sie die einzige war. Sie konnte sich gut daran erinnern, daß die Uhr im Armaturenbrett des Wagens Mitternacht anzeigte als die Dämonin erschien und ehe Hanna das Bewußtsein verlor. Ihr Wahnsinn – um diesen Ausdruck ruhig zu verwenden – lag nicht in der Darstellung des erlebten Ereignisses. Vielleicht war es so? Warum sollte ich stur bestreiten, daß es Übernatürliches geben kann, bloß weil es mir noch nicht unmittelbar begegnet ist? Nein, darin hat nicht der Wahnsinn gelegen! Der Wahn war das, was aus keiner Realität kam, auch aus keiner subjektiven, sondern aus dem, was Hanna selbst als Wall um sich aufgebaut hatte; und das war der verbissene Wille, die Lebenszeit in jener Mitternachtsstunde feststehend zu machen: Ihre ganz persönliche ‚ewige Mitternacht’! -

Wäre ich Anhänger der Freud-Schule, was ich nicht bin, so würde ich es mir jetzt leicht machen und behaupten, Hanna Schütz leide unter dem Schuldkomplex, als einzige das Unglück überlebt zu haben, bei dem ihr Vater umkam und auch ihr Verlobter – und so weiter, bla-bla-bla, platt nach vorgefertigtem Schema. Die Wahrheit sieht völlig anders aus! Wir können darüber gern einmal in Ruhe reden, falls es Sie interessiert. Heute fehlt dafür die Zeit. Im Augenblick genügt es, festzuhalten, daß Hanna Schütz wirklich wahnsinnig ist, vielmehr, war. Sie lebte in einem Wahn, und kein Arzt der Welt noch irgendein Priester oder sonst wer hätte es fertiggebracht, diesen Knoten zu lösen. Es waren stärkere Kräfte am Werk, in einer gewissen Weise überirdische, auch wenn das hier nicht als Gespensterei oder dergleichen Mumpitz verstanden werden darf.

Sehen Sie: Im Grunde lebt jeder von uns in einem Wahn, in seiner eigenen Vorstellungswelt. Keine zwei Menschen leben wirklich in derselben Welt! Nur, daß bei den meisten die Bandbreite begrenzt ist, weshalb man sich gegenseitig als ‚normal’ empfindet. Bei einigen Menschen ist die Bandbreite größer. Dann nennt man sie Psychopaten oder Wahnsinnige. Es hieß, der Bayernkönig Ludwig II. sei wahnsinnig gewesen. Er war es bis zu einem gewissen Grade – aber auf eine genialische Art! Für seinen Freund Richard Wagner gilt das nicht minder – wie für so manches wahre Genie! Sie kennen den Satz: ‚Genie und Wahnsinn liegen dicht beieinander’. Die Wahrheit ist: Ohne Wahn, das heißt: erweiterte, ‚unnormale’ – besser: übernormale – Sichtweise, wäre Genie gar nicht möglich. Wagner hatte das verstanden. Darum nannte er sein Heim: ‚Wahnfried’, den Ort, an dem sein großartiger Wahn zeitweilig zu Frieden gelangte. – Solche Gedanken sind freilich nicht ‚wissenschaftlich’, sie stehen über dem, was sogenannte ‚exakte’ Wissenschaft zu fassen imstande ist! So wie keine Wissenschaft dieser Welt die Kraft des Lebens zu erfassen vermag, so auch nicht die Bewegung des Geistes! Wissenschaftler haben versucht, ein Weizenkorn zu basteln, in dem sie alles, was in einem solchen feststellbar ist, zusammenballten und das in die Erde pflanzten. Es ging nicht auf – natürlich nicht, denn: Die Kraft des Lebens war nicht da, die göttliche Kraft! – Ähnlich steht es um den Geist. Die in ihren Systemen festgefahrenen Allerweltswissenschaftler begreifen ihn nie! -

Ich habe Hanna Schütz nie auf quasi klassische Weise behandelt, denn das wäre zwecklos gewesen. Ich verschrieb ihr auch nie Medikamente. Wir unterhielten uns miteinander, plauderten. Sie kam nicht sehr oft, doch mitunter überraschend. Ich tat für Hanna, was ich konnte. Das umfaßte mitunter sogar, ihr bei der Korrespondenz mit der Universität zu helfen, als es um die fixe Idee einer Expedition ging.

Alles in allem bestand das, was ich für Hanna tun konnte, nur darin, ihr zu ein paar Fenstern durch den Wall ihres Wahnes zu verhelfen, so daß sie das Vorhandensein einer anderen, einer beweglichen Zeit neben ihrer persönlich fixierten wahrnehmen und akzeptieren konnte – nicht, weil es für sie noch wichtig hätte sein können, sondern weil es für die anderen Menschen wichtig war. Hanna Schütz war in sich selbst für diese Welt verloren – oder aus anderer Sicht ausgedrückt: Sie benötigte sie nicht.“

Dr. Kraus legte seine Hände zusammen und ließ stumm den Blick kreisen.

„Ja“, sprach er dann beinahe versonnen: „Das ist der Mut zur Wahrheit, der den meisten fehlt! Er tut weh, sogar oft. Wie sagt Faust: ‚…daß wir nichts wissen können, das will mir schier das Herz verbrennen…’“

Die Tür ging auf, und Kraus’ für die Serviertätigkeit jetzt viel zu nobel wirkende Vorzimmerdame namens Anneliese servierte Tee. Sie war besonders freundlich, unser kleines, zwangloses Geschwätz von vorhin hatte mich ihr wohl sympathisch gemacht. Ich mochte sie auch, und da setzte meine ganz unakademische Hausmeister-Psychologie ein: Weil ich nett zu ihr gewesen war, war jetzt sie nett zu mir, und darum gefiel sie mir nun auch in ihrer neuen Aufmachung. Ich sah sie an, und da spürte ich auf einmal etwas anderes: Belauerte sie mich nicht wie die Katze die Maus? Oder gar nicht mich, sondern vielmehr ihren Chef? Sie wirkte sehr souverän, ganz anders als ihre frühere Ausführung! Ich war mir sicher – für einen kleinen Augenblick – daß sie hier aus der Stille regierte, nicht ihr Chef Dr. Kraus. Der kam mir in diesem Moment vor wie ein kleiner Junge, der mit einem Schmetterlingsnetz über eine Waldwiese läuft, um einen Falter zu fangen, den es gar nicht gibt, jedenfalls nicht auf dieser Seite des Kosmos’. Die neuerdings elegante Anneliese hingegen wußte besser wie es anzufangen war, sie sah den Dr. Kraus bereits in ihrer magischen Bogtanisiertrommel, und das im Auftrag und im Verein mit anderen ihres Schlags. Da würde der Herr Doktor med. schon alles so machen, wie der Klub es wollte, sogar im guten Glauben, es müßte richtig so sein. Mein Mißtrauen war plötzlich hellwach.

Doch sobald die geschniegelte Anneliese entschwebt war, sackte meine Offensivkraft in sich zusammen. Ich hoffte auf Rat von Dr. Kraus, weswegen ich ja hergekommen war, auf diesen oder jenen Fingerzeig, der mich im Fall Hanna Schütz und Drumherum weiterbringen könnte.

Ich bin kein großer Freund von Tee, aber dieser duftete angenehm und schmeckte auch gut. Ich achtete darauf, wie der Doktor sich gegen Anneliese Luken verhielt. Ein sehr höflicher Chef. Sonst keine Besonderheiten, ich glaube nicht, daß die beiden was miteinander haben. Allerdings: da kann der beste Menschenkenner sich irren, wenn er es mit einem eingespielten, intelligenten Duo zu tun hat.

Dr. Kraus stöberte in dem Material, das ich mitgebracht hatte, und sprach unterdessen: „Trotz alledem, es ist doch wenigstens gelungen, weiteres Umheil zu vermeiden; denn auch zu solchem hätte der Wahn führen können!“

Was er damit meinte, blieb unenthüllt. Ich hakte auch nicht nach, weil ich ahnte, er würde es mir sowieso nicht verraten. Aber an dem Tonfall, in dem er den Satz ausgesprochen hatte, wie auch am Ernst seines Gesichtsausdrucks konnte man merken, daß hinter diesem Satz etwas stand. Also ist die alte Frau Schütz vielleicht doch nicht immer bloß die liebe Tante gewesen, sondern hatte auch eine dunkle Seite? Ich beobachtete, wie Dr. Kraus seinen Stift nahm und in die Mitte des gekritzelten Spinnennetzes ein H schrieb – H, wie Hanna.

Ich fragte: „Halten Sie es für möglich, daß die alte Dame in den Tod getrieben worden sein könnte, weil jemand ihr den Dämon vorspielte hat oder ihr sonst wie einen Schrecken einjagte, damit sie in Panik geriet und ins Meer lief?“

Darüber dachte Dr. Kraus einen Moment nach, vielleicht dachte er auch an ganz etwas anderes. Seine Antwort klang mir ein bißchen zerstreut: „Ganz prinzipiell, ja. Ich halte es zwar praktisch für wenig wahrscheinlich, aber möglich wäre es sicher gewesen – nicht zu jeder Zeit, aber in jenen Phasen, in denen sie ein erneutes Erscheinen dieses Wesens fürchtete. Wie es ganz zuletzt darum stand, kann ich nicht sagen, weil ich Hanna in der letzten Zeit nicht mehr sah. Sie ist zwar noch manchmal zu mir gekommen, überraschend meist, wie schon gesagt, ohne sich angemeldet zu haben, denn trotz ihres Mißtrauens sprach sie hin und wieder gerne mit mir. Aber nicht mehr in den letzten… ich schätze acht Wochen. Also ohne Gewähr für Gewißheit: Es erscheint mir schwer vorstellbar. Gerade in den letzten Monaten ging es ihr wahrscheinlich gut. Anderenfalls hätte sie sich gemeldet.“

Er blickte vom Tisch auf und hielt nun den Ausdruck mit dem Abraxas-Zeichen. „Das“, sagte er langsam, um dann schneller weiterzusprechen: „Das hat Hanna Schütz vermutlich nie richtig verstanden, sie kam auch nur bei unserem allerletzten Gespräch kurz darauf. Immerhin stand Abraxas in ihren Augen wohl für die Macht der Überwelt, was nicht so falsch ist. Es ist schwierig, weil es darüber so zahlreiche Fehldeutungen gibt, auch in sonst seriöser Literatur. Sogar C.G. Jung befaßt sich in der ‚Psychologie der Alchemie’ mit Abraxas. In der Gnosis Sinnbild des höchsten Archons, zugleich die Zahl 365, für die 365 Himmel, beziehungsweise Jenseitssphären, und außerdem die Tage des Jahres… Aber auch das geht weit am Ursprung vorbei. Fast sämtliche gnostischen Gedankenkonstrukte sind ohne Wert, oft blanker Unsinn. Abraxas hat in Wahrheit nichts mit der Gnosis zu tun, sondern ist viel älter als sämtliche gnostischen Sekten. In jüngerer Zeit soll der Abraxas auch als Symbol eines Geheimbunds gedient haben. Es ist fraglos ein besonderes Zeichen, Abraxas, auch der Solare Hahn. Ich habe mich dafür interessiert, nicht nur, aber auch, aufgrund der erwähnten Abhandlung von Jung. Hanna besaß dieses Siegel, daß sie in der letzten Zeit gerne benutzte, noch nicht allzu lange. Sie verriet mir nicht, woher es stammte.“

Jetzt warf ich ein: „Ich bin mir ziemlich sicher, sie hatte es von Nora Behling. Die trägt ständig einen Siegelring mit genau demselben Zeichen. Ich glaube einmal gesehen zu haben, daß sie sogar auch Ohrringe mit diesem Zeichen trug, falls ich mich da nicht getäuscht habe, denn so brillant sind meine Augen nicht mehr, und die Ohrclips waren klein. – Wissen Sie eigentlich was über diese Frau, diese Nora Behling aus Bremen?“

Dr. Kraus zeigte wieder sein typisches leichtes Kopfschütteln, daß nicht wie resignierend wirkte, aber ein bißchen von einer Einsicht in die Unmöglichkeit vieler Dinge hatte. Er antwortete: „Sehr wenig. So gut wie nichts. Ich weiß, zuletzt ist diese Frau wichtig für Hanna gewesen. Wahrscheinlich positiv.“ Er wies mit einer Hand zum Fenster, als ob sie dort auf Höhe des zweiten Stocks in der Luft stehe und hereinschaue, und sagte: „Herr Grothe – Alwin Grothe – erwähnte bei unserem letzten Telefonat, diese Frau Behling übe einen zunehmend stärkeren Einfluß auf Frau Schütz aus. Er erklärte nicht näher, auf welche Weise, doch klang es mir nicht negativ, da er hinzufügte, Frau Behling habe in Geschäftskreisen einen guten Ruf…“

Dr. Kraus hielt inne, nickte dann sich selber zu und ergänzte: Sie müssen wissen, Hanna Schütz betrachtete jede junge Frau, die ihr begegnete, zuerst unter dem Gesichtspunkt, ob sie nicht jene Dämonin sein könnte, wenn es nach ihrer Vorstellung auch nur eine entfernte Ähnlichkeit gab. Sie war durchaus eigenartig. Aber das hatte weiter nichts zu bedeuten, es ging meistens schnell vorüber. Hanna kannte ja das Gesicht der Dämonin ziemlich genau, sie hat es sich sogar nach ihren Angaben zeichnen lassen, von einem Kunstmaler oder Grafiker, als Kohleskizze. Allerdings hat sie mir die nie gezeigt, auch sonst offenbar niemandem. Ich glaube aber, daß sie solch eine Zeichnung tatsächlich anfertigen ließ. Ich nehme an, sie hat sie vernichtet, das wäre gewissermaßen logisch…“ Er lächelte und breitete die Hände aus: „Als magische Handlung – vielleicht.“

. . . . . . . . . . .

 

„Nun, kehren wir zu Ihrer Frage zurück. Die allermeisten meiner Kollegen begehen meiner Überzeugung nach einen Kardinalfehler, über den ich eben schon sprach: Sie betrachten die Psyche als an das Gehirn gebunden. Das Gehirn aber sollten sie den Neurologen überlassen. Ich glaube, die Psyche, der Geist!, ist in Wahrheit nicht körperlich. Er kann es gar nicht sein, gerade aus Sicht einer echten Logik. Sofern ich damit Recht habe, muß auch eine Tätigkeit des Geistes unabhängig vom Körper möglich sein, das heißt genauer: unabhängig von dem sichtbaren Körper. Der Geist, der Gedanke, damit die Psyche, ist an sich unsichtbar, insofern also bereits eigenständig. Es kann aber wohl nichts bestehen ohne irgendeine Art von Stoff, mag dieser auch noch so anders sein als jeder uns bekannte. Auch der Geist muß eine gewisse, uns völlig fremde, Stoffichkeit besitzen, die für das Menschliche Auge unsichtbar ist, wogegen auch keine Mikroskope helfen. Ja, dadurch eröffnet sich ein weites Feld, eines ohne Begrenzung, weshalb schon das Wort ‚Feld’ fehl am Platz ist und es auch keinen Ausdruck gibt, der geeignet wäre, es trefflich zu bezeichnen… Ich muß mich endlich daran wagen, meine diesbezüglichen Studien weiterzuführen. Ich sage: daran wagen, weil es ein Wagnis ist. Meine mehr oder minder beschränkten Kollegen würden mir daraufhin sicherlich lieber in die Zwangsjacke als ins Jackett helfen! Die Menschen fürchten sich vor dem Unsichtbaren! Das war schon immer so, und heutzutage ist es am schlimmsten. Die Gegenwartswissenschafft paddelt im Planschbecken für geistige Nichtschwimmer! Es ist ein Trauerspiel, schon seit die sogenannte ‚Aufklärung’ kam – und Verdunklung brachte.“

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In diesem wie ausgesuchten Moment klopfte es, Frau Anneliese steckte den erneuerten Kopf zur Tür herein und meinte, wenn sie heute nicht mehr gebraucht würde, ginge sie heim. Ihr Chef fand das in Ordnung, und die Tür schloß sich wieder. 

Dann hörte ich ihn: „Vorhin, als ich Ihnen die zwei Fassungen von Hannas Erlebnis im Jahre 1937 erzählte, zuerst die logisch klingende, die weitgehend erfundene, und danach die ungloisch erscheinende, aber womöglich wahre, da fragte ich Sie im Anschluß, welche davon Sie glauben würden, und fügte an, Sie sollten diese Frage nicht beantworten, weil ich die Antwort ohnehin kenne. Selbstverständlich gingen Sie davon aus, ich nähme an, sie würden sich für die banale Variante entscheiden. Nein! Im Gegenteil: Ich war sicher, Sie neigen der anderen, der quasi mystischen zu – der in meinen Augen wahren!“

Damit hatte er mich überfahren, denn es stimmte, auch wenn ich es nicht so recht zugeben wollte. Dr. Kraus neigte sich vor, sah mich fest an und sprach:

„Herr Kamarek, Sie sind nicht zu mir gekommen, damit ich Ihnen bei der Lösung eines Kriminalfalls helfe. Das können Sie selber viel besser als ich. Sie sind gekommen, damit ich Sie von der Horizonterweiterung bewahre, Sie von Ihrer zunehmenden Erkenntnisfähigkeit befreie und in den dumpfen Stumpfsinn zurückstoße, aus dem Sie sich gerade jetzt zu erheben beginnen. Nein! Nichts dergleichen werde ich tun! Sie haben die Treppe schon halb erstiegen, die auf eine höhere Plattform führt. Jetzt haben Sie auch Courage genug, ganz nach oben zu steigen!“

Ich glaubte, wir sahen uns zwei Stunden lang schweigend an, obwohl kaum eine volle Minute verging. Der Duft des Tees schwebte durch den Raum, das fiel mir nun besonders stark auf, obwohl es ganz unwichtig war. Kraus hatte Recht und Unrecht zugleich. Ich meinte sehr wohl, für den Fall Unterstützung zu wollen, aber eigentlich ging es mir um das, was er eben gesagt hatte. Als die Spannung sich löste, sah ich vieles plötzlich anders als vorher. Oder vielleicht war es eher so, daß ich es schon vorher so gesehen hatte, dann aber anders sehen wollte. Es war ein sonderbarer Moment.

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Als ich das Haus verließ und zu meinem Auto ging, hatte ich ein eigenartiges Gefühl, so, wie wenn jemand in einer Sache, die man auf zwei Arten sehen kann, einfach zu keiner Beurteilung fähig ist. Einerseits hatte ich das Gefühl, gerade mit einem sehr klugen Mann geredet zu haben, der aber vollkommen wahnsinnig war. Andererseits empfand ich es ganz im Gegenteil so, als ob der Mann vollkommen Recht hatte mit allem, aber der Rest der Welt unfähig war, das zu begreifen. Es ist sicher eine der sonderbarsten Stunden meines Lebens gewesen!

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Ich melde mich wieder bei Ihnen, so bald es in unserer Sache was Neues oder irgendwie Interessantes gibt.

 

Viele Grüße

Ihr Horst Kamarek                        

Hamburg, 6. 5. 200X

       
               
               
     

       
               
               
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