Ueberblick

Aus

Ein

mailto:info@causa-nostra.com

Rundblick

Ausblick

Einblick

Rückblick

Überblick
     
   

Ausblick 

     

            Z-Plan  (Auszug-1)

       
     
       
     

Z-Plan  Auszug1 - Revolver

       
     
       
      Seit Jahr und Tag – so müssen wir leider fast schon sagen – sprechen wir vom Erscheinen der Neuausgabe des Romans „Z-Plan", und immer wieder haben dafür ins Auge gefasste Termine sich nicht einhalten lassen. Die Gründe dafür sind verschiedener Art, worüber wir auch berichtet haben. Die ambitionierten Bemühungen des Arbeitskreises Z-Plan (AZP) spielen dabei eine wesentliche Rolle, da immer mehr Material durch diesen Kreis ans Tageslicht gebracht wurde, welches aber wiederum auf historische Stichhaltigkeit geprüft werden will, soweit dies in einem Bereich wie diesem überhaupt möglich ist. Die große Menge an Hinweisen, Informationen und Ideen hat, wie wir bereits früher erklärten, zu der Überlegung geführt, ein eigenes Buch über die Hintergründe zu Z-Plan zu realisieren. All dies stellt sich jedoch so schwierig dar, wie es im Lichte des Stoffes auch logisch ist.

In welcher Form die Resultate des AZP nun auch zur Anwendung kommen – ob als separate Publikation oder als erheblich erweiterter Anhang – erfordern die wichtigsten davon, im Roman selbst berücksichtigt zu werden. Das bedeutet, ein Buch von rund 700 Seiten abermals gut korrekturlesen zu müssen – mit einem Wort: sehr viel Arbeit, die neben vielen anderen Tätigkeiten zu schaffen nicht einfach ist.

Für all jene, die zumindest die wichtigsten Passagen des Buchs in der definitiven Fassung endlich zu lesen wünschen, veröffentlichen wir diesen Schlüsselroman daher von nun an in Auszügen. Da es kaum sinnvoll wäre, ein so umfangreiches Buch vollständig als Fortsetzungeroman im Internetz wiederzugeben, stellen wir hier zunächst einmal die rein romanhaften Teile in den Hintergrund, sofern solche nicht zum Verstehen der Hintergründe und Zusammenhänge unerlässlich sind. Wo Teile ausgelassen wurden, ist dies durch Punkte ……… gekennzeichnet. Dadurch wird zweifellos ein Eindruck entstehen, der leider nicht dem Buch als ganzem gerecht werden kann. Trotzdem hoffen wir, mit diesen provisorischen Einblicken in das Buch wenigstens ein wenig bieten zu können, ehe die Neuauflage verfügbar ist.

 

 

 

Auszug 1 (Aus dem ersten Kapitel)

 

Feiner Nieselregen fiel in das Gesicht des großen blonden Mannes von wohl Ende dreißig, dessen graue, lederne Fliegerjacke schon einigermaßen schäbig aussah. Das Schild, auf dem «Düsseldorf Hbf» stand, war von der gleichen schmuddeligen Färbung wie die meisten Bahnhofschilder. Ernst Lukowsky ging außerhalb der Überdachung auf und ab. Hier, unter freiem Himmel, erschien ihm die Luft reiner, der Blick klarer, hier, wo nicht übernächtigte Wartende die Stimmung gedrückten Aufbruchs an ihn herantrugen. Die Nacht war kalt, der späte Sommer dieses Jahres 1972 neigte sich bereits dem Herbst zu. Lukowsky fröstelte. Er hob die Schultern und spannte alle Muskeln gegen die Kühle und die Feuchtigkeit an. Das Wetter war mies und Lukowsky war müde. Alles zusammen würde ihm die Laune verdorben haben, hätte er sich nicht längst abgewöhnt gehabt, auf dergleichen zu achten. Außerdem kam ihm dieser Auftrag gerade recht, schon wegen der Moneten, die das Betriebsmittel der materiellen Erdenwelt sind. Auch das tiefgründige Philosophieren hatte er sich längst abgewöhnt. Dafür zahlte ihm keiner einen Groschen. Doch Ernst Lukowsky mußte ein paar Groschen verdienen.

Neben ihm schob sich, wie ein auftauchendes U-Boot, der Aufzug für die Bahnfracht empor. Zwei dunkelblau gekleidete Männer sprangen heraus. Sie lachten sich müde an, machten einen groben Scherz, zogen zwei niedrige Karren hervor, und verschwanden damit in der Dunkelheit. Lukowsky wandte sich um und blickte in die matt erleuchteten Bahnsteigschächte. Er beobachtete, wie der größere der beiden schwarzen Zeiger über dem neonerhellten Zifferblatt der Uhr zwischen den Anzeigentafeln auf die Zwölf rückte. Leerer wurde der Bahnsteig neben den Schienen. Kleine Gebäude standen da wie erstarrt: die Bahnaufsicht, ein geschlossener Kiosk, Telefonzellen. Wenige Wartende schlichen umher oder hockten müde auf harten Bänken bei ihrem Gepäck, als habe das Leben sie böswillig hierhin verdammt.

Lukowsky war wieder unter die Überdachung getreten. Kühler Wind blies ihm Regenschleier nach, bis er zur Treppe gelangte, die zur Bahnhofhalle führte. Er bohrte seine Hände tiefer in die Jackentaschen und ging dorthin zurück, wo der Bahnfrachtlift aufgetaucht war. – Ein Lautsprecher ertönte: „...aus Dortmund nach München über Köln, Mainz..." Dann fuhr eine Elektrolokomotive vorbei, schleppte schmutzverkrustete Waggons in den röhrenförmigen Bahnhof, begleitet vom Kreischenden der Bremsen, Rufen aus heiseren Kehlen, Türenschlagen – der Zug stand still. Dann öffnete sich am Gepäckwagen eine Tür. Lukowsky ahnte nicht, daß dies ein Nebenausgang der Hölle war, die soeben den Tod auf galoppierenden Rossen herausließ. Kaum einer ahnte es. Und die, die es wußten, rannten ihm stumpfsinnig entgegen: «Komm’ her, Sensemann, hack mir den Kopf ab!» Ernst Lukowsky war ihm nicht entgegengelaufen, ihm rannte er nach.

Die blaugekleideten Männer ergriffen Pakete und Koffer, stapelten alles auf ihre niedrigen Karren. Lukowsky trat fester auf als notwendig, versuchte dabei die Kälte aus den Gliedern zu schütteln. Er lief die Treppe hinunter in die Bahnhofshalle. Die Haupteingänge waren bereits verschlossen. Eisige Leere herrschte in den großen, weitläufigen Räumlichkeiten. Jeder Schritt hallte. Die Tabak- und Zeitungsläden, der SB-Markt, das Blumengeschäft, die Drogerie und die Restaurants – alles, was sonst hell erleuchtet nach Kundschaft rief, lag in der nächtlichen Stille geisterhaft unbelebt da. Allein ein paar Bahnpolizisten durchstreiften die öde Stätte, wie die letzten Überlebenden einer untergegangenen Menschheit. Lukowsky durchquerte die Bahnhofshalle. Weit hinter ihm erklangen murmelnde Stimmen und die Schritte der wenigen Passagiere des gerade angekommenen Zuges.

Vorbei am dunklen Zeitschriftenstand und den versperrten Fahrkartenschaltern gelangte Lukowsky zur Expressgutstelle. Auch dort herrschte fast völlige Dunkelheit. Nur weit hinten in dem verzweigten, kellerartigen Bau gab es ein einzelnes Licht. Ein Bahnpolizist mit seinem grauen Schäferhund an der Leine langweilte sich am Seitenausgang. Lukowsky betrat das Areal der Expressgutabfertigung. Niemand hinderte ihn daran. Er wand sich zwischen Kisten, Koffern und Paketen, Fahrrädern, Rohren, verpackten Kurbelwellen und den verschiedensten Gegenständen hindurch. All das lag wie schlafend da, wartend darauf, von irgendjemandem aufgeweckt und abgeholt zu werden. Endlich gelangte Lukowsky an ein Pult, hinter dem ein ergrauter Mann soeben in ein Butterbrot biß. „Morgen", sagte der Mann kauend und sah Lukowsky durch seine starken Brillengläser an: „Heute tut sich nichts mehr. Morgen!" – „Ich erwarte ein Paket", entgegnete Lukowsky: „Es müßte eben mit dem Zug aus Dortmund angekommen sein." – „Ach", überlegte der Mann mit Brille: „Da läßt sich jetzt nichts machen. Morgen. Morgen früh." – „Das kann doch nicht so schwierig sein", versuchte es Lukowsky erneut: „Probieren wir’s wenigstens!" Der Beamte zuckte mit den Schultern und legte sein Brot beiseite: „Dann müssen Sie sich’s selber raussuchen." Lukowsky nickte dankend und begann mit der Suche. „Nee!" rief der Mann hinter dem Pult ihm zu: „Nur das, was da an der linken Seite steht! Und wenn Sie es finden, müssen Sie mir nachher irgendeine Legitimation zeigen!" – Auf der linken Seite stand eine lange Kette blauer und gelber Karren mit kleinen Vollgummireifen. Zu schwer, als daß Kinder damit hätten spielen können, und doch wirkten sie so. Diese Karren waren mit den unterschiedlichsten Gepäckstücken beladen. Öfters stieß Lukowsky gegen ein hervorstehendes Stück Eisen oder Holz, dann fielen Pakete durcheinander und Koffer stürzten um. Lukowsky war zu müde, um sich darüber aufzuregen. Rund fünfundvierzig Minuten verstrichen mit Suchen und Wühlen. Endlich fand er im schwachen Schein einer fernen Lampe ein nicht allzu großes aber schweres Paket in grünem Packpapier. Daran klebte Blut wie an den Händen eines zentralafrikanischen Diktators. Doch das konnte niemand sehen, und es war noch lange nicht satt, hatte vor, noch mehr rotes Menschenblut zu saufen; solches von raffgierigen Lumpen ebenso wie das von schwärmerischen oder auch beinharten Idealisten.

Von alledem hatte Ernst Lukowsky bislang keine Ahnung. Aber nun hielt er dieses grüne Paket unter dem Arm, das für ihn so etwas wie die ungerufene Eintrittskarte in eine Lebenssphäre werden sollte, die überall war, und von der doch kaum jemand wußte, der ihr nicht angehörte. Vorläufig war das, was er hier mit sich trug, für ihr nur irgendein Paket, das er nach Istanbul fliegen sollte – und basta.

Abermals hallten Lukowskys Schritte durch das verlassene Bahnhofgebäude. Bald stand er wieder auf dem Bahnsteig, den nächsten Zug nach München erwartend.

Dicke Regentropfen klatschten in unregelmäßigen Abständen gegen die Scheibe des Zugfensters. Vom Fahrtwind getrieben, krochen sie in bizarreren Bahnen über das Glas. Der Zug fuhr bereits in die Vororte von München, vorüber an kleinen Bahnhöfen, die zu nächtlicher Stunde einfach nur da zu sein schienen, da niemand sie brauchte. Lukowsky blickte durch das fleckige Fenster. In der Ferne sah er umherhuschende Autolichter, verstreute Leuchtreklamen an Hauswänden oder Fabrikschornsteinen, allmählich dichter werdendes schwarz-graues Häusergewirr, oft nur bleiche, gegen den Himmel strebende Schatten mit ein paar gelben Lichtflecken darin. Hinter jedem dieser gelben Lichtflecke begann jetzt der Tageslauf eines Menschen, auch ganzer Familien: Regelmäßigkeit, Ordnung, ruhige Normalität. Ernst Lukowsky überlegte während einer halben Minute, wie das wohl sein mochte. Es konnte es sich nicht vorstellen. Aber er ahnte, daß es gut sein mußte, ein Leben in festen Bahnen, wie es sein sollte.

Frühdunst lag noch über München und in den Straßen der Stadt. Aber die Sonne durchbrach bereits in fahlem Weißgelb die diesige Wolkenschicht. Längst herrschte reger Verkehr.

Noch zeitig am Morgen erreichte Lukowsky jenes Gebäude nahe dem Stinglmeierplatz, neben dessen Eingang das Firmenschild «Mahlberg, Gabler & Wenzl, GmbH & Co KG» klebte. Darüber gab es ein dilettantisch wirkendes Firmenschild, welches sich aus einem Flugzeugpropeller, Bahnschienen, einem Lastwagenreifen und einem Schiffssteuerrad zusammensetzte. Es sah aus wie das Resultat des Schülerwettbewerbs einer Grundschulklasse zum Thema: Wie bringt man Sinnbilder sämtlicher Transportmittel möglichst verwirrend durcheinander. - Lukowsky durchquerte einen muffigen Hausflur. Eine breite, frischgebohnerte Holztreppe führte zu den oberen Stockwerken. Einen Fahrstuhl gab es nicht. In der obersten Etage war die Firma Mahlberg, Gabler & Wenzl angesiedelt. Das Gegenstück zu dem Schild unten an der Hausfront hing neben der Tür über einem ehemals weißen Klingelknopf. Lukowsky drückte auf diesen Knopf. Es erfolgte keine Reaktion. Durch die braune Tür ließ sich Schreibmaschinentippen, Stimmengewirr und allgemeines Rumoren vernehmen. Lukowsky klopfte. Die Tür blieb zu. Er griff nach der Klinke und betrat unaufgefordert einen schmalen Korridor, an dessen linker Seite die Fenster zur Straße lagen, während rechts vier Türrahmen ohne Türen in lautstark belebte Zimmer wiesen. Stimmen riefen durcheinander wie auf einem Bazar in den Gassen von Kairo. Dieses Klanggebilde wurde ergänzt von klappernden Schreibmaschinen, schrilles Telefonläuten und einem ratternden Fernschreiber. Ein schmächtiger Mann in knuddeligem hellen Anzug stürzte aus dem hintersten Zimmer in den Korridor, gestikulierte erregt mit beiden Armen und rief: „Eine Schlamperei ist das, meine Herren, eine unverzeihliche Schlamperei!" Ein zweiter Mann, jünger und größer als jener im hellen Anzug, kam hemdsärmlig aus dem vordersten Raum: „Was kann ich dafür, wenn die faulen Säcke wieder streiken!" Seine Stimme überschlug sich vor Groll. Seine Hand ballte sich zu einer Faust, dabei ein hellgrünes Papier gründlich zerknüllend: „Auf so idiotische Weise sind eben keine Geschäfte zu machen! Ich habe diesen erbärmlichen Wisch schließlich nicht unterschrieben! Oder? – Denken Sie etwa, Brünner..." Er schöpfte Luft: „Denken Sie etwa, ich schlafe hier Tag und Nacht!" Ein brünettes Mädchen mit deutlich französischem Akzent mengte sich dazwischen: „Herr Wenzl! Toulon ist am Telefon! Wollen Sie selbst sprechen?" „Ja!!" brüllte der große Hemdsärmelige dem Mann im hellen Anzug ins Gesicht, als habe dieser gefragt. Er nahm das neben seiner Hühnengestalt wie ein Kind wirkende Mädchen beim Arm und verschwand mit ihr in einem der Zimmer. Auch der andere kehrte dorthin zurück, von wo er gekommen war. Statt seiner rannte ein hochgewachsener junger Bursche an Lukowsky vorbei durch den Flur zu einem dort aufgestellten Fotokopiergerät älterer Bauart und nahm es in Betrieb. Es gab Geräusche von sich, die an eine Dampfmaschine erinnern konnten.

Lukowsky ging dem Hemdsärmeligen nach, der jetzt hinter einem großen hellbraunen Schreibtisch in gebückter Haltung telefonierend stand und alle zwei Augenblicke das mithörende Mädchen anfuhr: „Was hat er gesagt?! Na? Was!?!" Er schrie ins Telefon: „Rede doch lauter, Mensch! Versteh’ sowieso kein Wort!!" Dies war offenkundig Herrn Wenzls allgemein üblicher Umgangston. Uneingeschüchtert horchte das Mädchen am Hörer, den Wenzls kräftige Hand hielt, und übersetzte geduldig. Nachdem dieses Telefongespräch beendet war, ließ Wenzl sich in seinen Chefsessel plumpsen, grapschte einen kalten Zigarrenstummel vom Rand eines Bronzeaschenbechers und entließ das Mädchen mit dem Befehl: „Kaffeekochen!" – Er biß auf den Zigarrenstummel, bemerkte Lukowsky und fragte grob: „Wer sind Sie?! Was wollen Sie!? Wie kommen Sie hier rein?!" Das Mädchen warf im Vorbeigehen eine Streichholzschachtel auf den Schreibtisch. Wenzl nickte dankend und sorgte für Qualm. Lukowsky sagte: „Felix Schäurer schickt mich. Hat mit Ihnen telefoniert. Reingekommen bin ich durch das türlose Loch da." Wenzls Miene hellte sich auf: „Ah, ja, ja, der Flieger, der... Was für eine Mühle fliegt Ihr denn? – Ach, scheiß der Hund drauf! Ist Ihre Sache!" Der Mann hinter dem Schreibtisch durchwühlte ohne hinzusehen mehrere Schubladen. Er brachte einen grünen Plastikordner zum Vorschein und blätterte darin. „Ja, richtig!" rief Wenzl plötzlich: „Ich weiß jetzt bescheid! Haben Sie dieses grüne Paket? – Ah ja! Sehe schon! Alles da! – Geben Sie mal her. Bin gleich zurück." Wenzl schnappte sich das grüne Paket mit verblüffender Behändigkeit und verschwand damit in einem angrenzenden Raum. Er schien mit dem Paket allein sein zu wollen, als enthielte es unsittliche Fotos, die er sich schnell heimlich anschauen wollte. Eine Zigarettenlänge später kam Wenzl wieder und knallte das Paket auf den Tisch, daß es krachte: „Alles klaro. Woll’n Sie gleich los?" Lukowsky antwortete: „Ich will." Wenzl deutete auf einen wie zufällig mitten im Raum herumstehenden Stuhl und machte eine auffordernde Geste: „Da ist ein Stuhl. Schnappen Sie sich das Ding und setzen Sie sich!" Das brünette Mädchen brachte auf einem Serviertablett Kaffeetassen. Wenzl deutete auf Lukowsky: „Ihm auch!" Daraufhin nahm das Mädchen Wenzl die Tasse wieder weg und reichte sie freundlich lächelnd Lukowsky: „Der Gast geht bei uns immer vor!" Wenzl knurrte etwas von Hexen und Fegefeuer, bis auch er seinen Kaffee bekam. Das Mädchen zog sich zurück. Wenzl überlegter: „Also gut!" Er warf den grünen Plastikordner klatschend auf die Tischplatte: „Hier sind Ihre Unterlagen drin. Sehen Sie das Zeug durch." Er blickte zur Uhr: „Sie kamen unangemeldet. Das ist in dem Laden hier sehr schlecht. Ich habe jetzt nicht viel Zeit, kriege gleich wichtigen Kundenbesuch. Sie werden schon alleine klarkommen." Wenzl beugte sich vor und schrie in Richtung Korridor: „Klärchen!! Wo steckt denn das Weib! Fräulein Claire Furnier!!" Das Mädchen kam. Wenzl fuchtelte mit der rechten Hand in der Luft herum: „Geben Sie Herrn Lukowsky zweitausendfünfhundert Mark Vorschuß. Und lassen Sie ihn quittieren!" Er erhob sich: „Machen Sie’s gut! Wir kommen sicherlich noch zusammen." Lukowsky folgte Claire Furnier in das benachbarte Zimmer. Zwei Schreibmaschinen klapperten hier und ein Fernschreiber. Sieben oder acht Menschen drängten sich in dem engen Raum. Während das Mädchen fünf Fünfhundertmarkscheine in ein längliches Kuvert schob und den Quittungsblock bereitlegte, fragte Lukowsky: „Wie hält man es mit dem Burschen da drüben länger als zehn Minuten aus?" Sie schlug die Augen nieder und wieder hoch: „O, er ist im Grunde sehr nett! – Unterschreiben Sie?" Während Lukowsky die Geschäftsräume der Firma Mahlberg, Gabler & Wenzl verließ und die Tür hinter sich schloß, hörte er Wenzls Stimme donnern: „Was, verdammt nochmal, soll die zweite Schlabbertasse hier auf meinem Tisch!!"

………

Die Nacht hindurch hatte es geregnet. Das Rollfeld, ein westfälischer Acker, breitete sich vor dem ehemaligen Viehstall aus, den Ernst Lukowsky und Felix Schäurer gerade verließen. Fast knöcheltief sanken sie im aufgeweichten Boden ein. An diesem Morgen blieb der Himmel trübe. Dunst lag über dem Horizont. Dennoch setzte ein Flugzeug zur Landung an, eine uralte Transportmaschine des Typs C-47 mit zwei dröhnenden Sternmotoren. Meterhoch spritzte es um das Fahrwerk, als die Maschine in der Waagrechten aufsetzte. Dann senkte sich das Heck. Das Spornrad berührte die Erde, zog eine lange Schmutzfontäne hinter dem Flugzeug her. Endlich stand es. Die Motoren liefen aus. Noch ein paar Mal schlugen die Luftschrauben. Wieder lag Stille über dem dunstigen Platz. An dem gelandeten Flugzeug wurde eine blecherne Tür aufgeklappt. Auch eine winzige Glasscheibe an der Pilotenkanzel wurde aufgeschoben. Lukowsky lief auf das Flugzeug zu: „Nicht hier! Wo sollen denn die anderen stehen! Da rüber! Los! Los!" Er winkte dem Piloten zu und dirigierte mit den Armen. – Wieder dröhnte Motorenlärm in den Morgen. Luftwirbel peitschten den aufgeweichten Boden. Bald schwiegen die Motoren abermals. Ein korpulenter Mann sprang aus der offenen Blechtür, fiel in die aufgeweichte Erde und fluchte: „Verdammt, verdammte Zucht!" Lukowsky rannte zu dem Mann hin, der sich bereits aufgerichtet hatte: „Anwerfen! Na los! Gleich brummt schon der nächste rein! Also vorwärts!"

Jeder der Männer lief nun unter einen der bulligen Sternmotoren, und sie bewegten die mächtigen dreiblätterigen Luftschrauben. Der rechte Motor sprang zuerst an, gleich darauf auch der Linke. – „Da rüber!" erscholl abermals Lukowskys Stimme. Motorenlärm verschlang seine Worte. Der Dicke, der aus dem Flugzeug gesprungen war, legte die Hände an den Mund: „Rechts, Eberhard, rechts ... neben Lukowskys Mühle ... Da!" Endlich nahm die Maschine den ihr zugedachten Platz ein. Der zweite Zwomotorer schwebte bereits ein. „Scheiß Waschküche!" beschwerte sich der Pilot des ersten, als Lukowsky auf ihn zukam: „War ja reine Kamikazefliegerei! Wie viele kommen denn noch?" – „Fünf", antwortete Lukowsky, und reichte dem angekommenen Flieger die Hand: „Sieben sind wir dann zusammen... Was macht denn der da?!" Die zweite Maschine hatte mittlerweile das Fahrwerk auf den Boden gebracht und rollte im Schlamm. Das Spornrad am Heck aber hüpfte noch auf und nieder. Der gerade kurz vorher eingetroffene Flieger rannte einige Meter vor: „Nicht bremsen, Idiot, ausrollen lassen!" Das auf ihn zurollende Flugzeug wurde größer. Lukowsky und der beleibte Mann gaben unentwegt Handzeichen, während der Pilot des ersten Flugzeuges zu Felix in den Funkraum lief. Näher und näher kam die große Maschine. Der Dicke neben Lukowsky fluchte aufgeregt: „Ein Fliegerdenkmal wird das – Dreck verdammter – der macht uns gleich ’nen Kopfstand vor!" Plötzlich neigte der Vogel sein Haupt. Die Luftschraubenblätter fetzten tiefe Löcher in den weichen Erdboden, ein Knirschen, Vierteldrehung – das Flugzeug blieb auf den Bug gestützt stehen. – „Elender Waldheini!" rief der Dicke dem aus der havarierten Maschine kletternden Piloten entgegen: „Hinten ist das Spornrad, Junge! Hinten, hinten! Der blockiert uns die ganze Landebahn!" - „Landebahn! Der Witz des Jahres!" rief der verunglückte Flieger aufgebracht: „Außerdem streiken bei meiner Mühle regelmäßig die Bremsen!" Lukowsky lief auf den neben dem Gebäude parkenden Lastwagen zu und wandte sich um: „Aufrichten und wegschleppen! Schnell, schnell!" Sechs Männer sprangen herbei und machten sich an der beschädigten Maschine zu schaffen. – „Vorsicht! Das Höhenruder!" hörte Lukowsky noch rufen, als das Flugzeug auch schon umschlug und die Blechverkleidung des Lastwagens deformierte. – „Paß’ doch auf Mensch!" schrie der korpulente Mann: „Trittst mir ja auf die Pfoten!" – „Dann nimm’se doch weg!" – Die dritte Maschine zog bereits Schleifen über dem Platz. „Geh ans FT", befahl Lukowsky dem Dicken: „Der da oben soll reinkommen. Das geht schon. Bis der hier ist, haben wir die Bahn klar!" Anschließend wandte er sich dem Fahrer des Lastwagens zu: „So gib doch Gas, Junge, denk’ es wär Krieg!"

Das dritte Flugzeug landete problemlos. Ebenso das vierte. Beim letzten Ankömmling ergaben sich nochmals Schwierigkeiten. „Durchstarten, Kerl!" schrie Lukowsky ins Mikrofon: „Willst du uns umbringen? – Durchstarten!" – Im vorletzten Augenblick schaffte es der Pilot, seine Maschine hochzuziehen und knapp über das Dach des Viehstalls hinweg zu bringen. Nach einer Schleife setzte er erneut zur Landung an. Diesmal klappte es.

Rechtzeitig zu Mittag standen alle Flugzeuge an ihren Plätzen. Die Sonne zeigte sich verhalten am Himmel. Die Männer, die mit den Flugzeugen gekommen waren, hockten in einem möbellosen Bauernhaus auf Kisten und Tonnen. Sie hielten Teller auf den Knien und aßen, was ein hellblondes Mädchen ihnen brachte. In einem engen Zimmer dieses Hauses klingelten Telefone. Lukowsky nahm einen Hörer: „Ja? – Na endlich! – Bin ich Jesus?! – Na also! Wann kann ich mit Euch rechnen?" - Am zweiten Telefon sprach Felix Schäurer, sich den linken Zeigefinger ins Ohr steckend: „Aber wenn ich’s doch sage! Die «N 8614 V» fällt vorläufig aus. Beide Latten im Eimer, Motoren dito. Vier Wochen dauert das mindestens. Wir werden die Ladung anders aufteilen. – Das muß eben gehen!" Das blonde Mädchen steckte den Kopf durch die halb geöffnete Tür: „Wollt Ihr was?" Felix legte den Hörer aus der Hand und fragte zurück: „Was? – Ach so, Kaffee! – Kaffee, Ernst? – Kaffee!" Lukowsky nickte. Seine Hände suchten gleichzeitig in je einer Brusttasche des blaugrauen Hemdes, brachten einen zusammengefalteten Zettel zum Vorschein: „Nach meinem Zeitplan klappt noch alles bis sechs." Felix trat neben ihn: „Laß’ mal sehen." Er warf einen Blick auf die Uhr: „Vorausgesetzt, die Laster sind pünktlich. Da die ‚November 8614 V’ ausfällt, muß ja noch umorganisiert werden..." Er sah zur Tür: „Wo bleibt denn das Kind mit dem Gesöff?" Er riß die Tür auf: „Wo bleibt der Kaffee? Kaff-Kaff!" „Jaa!" klang es zurück: „Gleich!" Wieder schrillte ein Telefon. Lukowsky griff zum Hörer: „Führerbunker! – Ja! Na endlich! Wo steckt Ihr denn? – Unna?! – Hoffentlich nicht in Kolonne?! – Gut. Sonst ist alles halbwegs klar... Ah, gerade kriegen wir Kaffee – Schlabb’re nicht, Kind! – Nein, du bist nicht gemeint. Wir werden hier mit Kaffee verwöhnt. – Ja, bis dann! Ende." Er ließ den Hörer auf die Gabel fallen. „Dann mal her mit der Brühe! Danke! – O! Ist ja sehr genießbar!" –

Sieben Laster knatterten an das Flugfeld. Von dem riesigen Kotflügel des ersten Lastwagens sprang ein junger Mann und lief auf Lukowsky zu: „Grüß Dich! Gleich umladen?" – Sie schüttelten sich kurz die Hände. „Wir müssen die Ladung aufteilen", erklärte Lukowsky: „Eine von den Dakotas hat bei der Landung ‘nen Kopfstand gebaut. Die kriegt man nicht so schnell wieder flott, die Motoren sind wahrscheinlich sowieso im Eimer." Das Mädchen kam mit flatternden Haaren im Laufschritt über den Platz und rief schon von weitem: „Da ist was im Funkverkehr!" Lukowsky lief in den zweckentfremdeten Viehstall. Der mit dem ersten Flugzeug eingetroffene rundliche Mann fuchtelte aufgeregt mit den Armen in der Luft herum: „Einer der unsrigen muß im Tiefflug über Funkfeuer «ELA» gebraust sein. N’ paar Sportflieger haben da Luftkampf gespielt und ihn gesehen. Jetzt sucht die Flugsicherung!" Lukowsky winkte ab: „Nebensächlich. Soll’n Sie suchen! Wir antworten ja nicht."

Um 17 Uhr 55 kletterte Lukowsky in seine Maschine. Die Motoren dröhnten, er schob den Gashebel nach vorn und löste die Bremsen. Schwerfällig erhob sich die Maschine vom Boden, beinahe so, als hätte sie sich lieber noch eine Weile ausgeruht. Dann lag sie aber gut in der Luft, fühlte sich wohl im Element der Wolken.

Seit Jahren kannte er sich auf diesem kleinen Behelfsflughafen in der Nähe von Istanbul aus. Die großen Linienmaschinen standen weit von hier, in besseren Regionen – sofern man für «besser» den Maßstab des Geldes anlegte. Hier hingegen herrschte das Leben der Außenseiter, derer, denen das bunte Treiben an exklusiven Großflughäfen nichts bedeuten konnte. Eine schwerfällige Gelassenheit ruhte über diesem Flugfeld. Überalterte, teils längst schrottreife Maschinen dösten in der Sonne. Männer spielten Karten im Schatten der Tragflächen oder tranken Bier und Mokka im Restaurant-Wellblechschuppen, in dem Ventilatoren vergebens Frische zu schaffen trachteten. Türkische Musik leierte aus einem Radio, das auf den Brettern stand, die zugleich die Theke darstellten. „In rund zwei Stunden können wir weiter – inscha’Allah!" sagte Felix Schäurer. Er winkte dem Wirt und bestellte erneut Bier. Lukowsky nickte nur, und Felix verließ mit seiner Bierdose den Schuppen. Der dürre Wirt beförderte mit geschickter Handbewegung ein schwarzes Etwas auf die Bretter, das nach flüchtigem Staubwischen mit dem Hemdsärmel als Telefon erkennbar wurde. Lukowsky dankte, nahm einen zusammengefalteten Zettel aus der Tasche und wählte eine Nummer. Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine jugendlich anmutende Mädchenstimme: „Manday Limited!?" Lukowsky sagte auf Englisch: „Ich habe eine Ladung für Sie eingeflogen. Nur ein Paket. Warum holt’s niemand ab?" – „Worum handelt es sich bitte, Mr. Lukowsky?" – „Das habe ich Ihnen doch gerade gesagt! Verbinden Sie mich mit Mr. Beekn." Die Stimme am Telefon klang sehr freundlich: „Das tut mir leid, Mr. Beekn ist gegenwärtig nicht im Hause. Möchten Sie in einer Stunde nochmals anrufen?" Lukowsky fragte: „Erreiche ich Ihren Chef auch noch in zwei Stunden?" „Ja gewiß", kam die Antwort: „Während des ganzen Nachmittags!" – „Gut. Dann komme ich nachher vorbei."

Schwacher Wind hatte sich aufgetan, strich über karge Erde, über die Metallrümpfe der Flugzeuge und die Gesichter der Männer, die sich hin und wieder an diesem Orte trafen – nicht aus Verabredung, sondern weil es sich so ergab. Sie flogen im Dienste mehr oder minder legaler Unternehmen, verdienten recht und schlecht dabei. Lachten sie, über eine Geschichte, einen Witz oder einen belanglosen Scherz, so klang das mitunter auffallend laut, als gelte es, eventuell einfallende ernsthafte Gedanken zu übertönen. Fast immer herrschte ein rauher, verwegener Stil, an dem ursprünglich vielleicht nicht viel Echtes gewesen war und der doch im Laufe der Zeit etwas eigenständig Wirkliches geschaffen hatte. Selbst die Luft, die man hier atmete, schien überkrustet zu sein; eine Luft, die sie allein atmeten und an der Außenstehende ersticken müßten. Dies war eine Welt der Männer, geradliniger, oft hartgesottener Männer, die sich ganz als solche sahen. Wenn in dieser Umgebung Frauen auftauchten, was selten geschah, so solche, die nichts anders sein wollten als Frauen. Von Gleichheitsideologien hielt hier keiner auch bloß das geringste. Wer womöglich andere Vorstellungen hatte, hielt es in diesem Kreise keine halbe Stunde lang aus. Hier hatte der Zeitgeist der modernistischen westlichen Gesellschaft keine Chance. Lukowsky wandte sich an die unter einem Flugzeug sitzenden oder liegenden Männer: „Ich muß noch mal in die Stadt. Will jemand mit?"

Ein blaues Taxi brachte ihn nach Kadiköy. Die «Manday Limited» residierte wenig komfortabel in einem schmalen, schlecht verputzten Gebäude. Die Eingangstür in der ersten Etage stand offen. Dahinter ein altmodischer Schreibtisch, an dem das Mädchen, das am Telefon zu Lukowsky gesprochen haben mußte, in Papierstößen wühlte. Ein schlankes, rotblondes Mädchen in einem dünnen roten Kleid. „Was wünschen Sie?" fragte dieses Mädchen. Lukowsky grüßte und erwiderte: „Zu Mister Been. Wir telefonierten wohl vorhin miteinander." Das Mädchen stellte sich unwissend: „Ich hätte mit Ihnen telefonisch gesprochen, Mister..." – „Lukowsky! – Ist Ihr Chef hier irgendwo?" Er ließ seine rechte Hand in der trockenen Luft kreisen. Das Mädchen musterte ihn mißtrauisch, stand dann vom Schreibtisch auf und bat: „Einen Moment bitte!" Es verschwand hinter einer morschen Holztür, die vor langer Zeit sehr schlecht gestrichen worden war. Lukowsky blieb vorerst allein in dem Zimmer, das in keiner Weise ein weltweit operierendes Handelsunternehmen vermuten ließ, sondern eher an eine renovierungsbedürftige Amtsstube erinnerte. Vor den beiden geöffneten Fenstern bewegten sich helle Leintücher im schwachen Luftstrom, die gegen einfallendes Sonnenlicht schützen sollten.

Endlich kehrte das Mädchen zurück und sagte langsam, beinahe würdevoll: „Bitte, wenn Sie hineingehen möchten!" – Das anschließende Zimmer erwies sich als besser eingerichtet. Der schwarze Schreibtisch stand hier auf einem wertvollen Teppich, ebenso frischvernagelte Kisten, die hier und da Holzwolle verloren haben mußten, bevor man sie verschloß. Der Mann hinter dem Schreibtisch erhob sich und reichte eine ringverzierte Hand, eine dicke, jedoch nicht feiste Hand. Er mochte das sechzigste Lebensjahr erreicht oder bereits überschritten haben, was Lukowsky nicht recht abschätzen konnte. Zwischen Papierbergen lag eine dicke Hornbrille auf dem Schreibtisch, welche Beekn offensichtlich nur zum Lesen benötigte. Er begann: „Guten Tag! Wenzl hat Sie mir angekündigt." Beekn sprach Deutsch, er war Deutscher. Er fragte: „Sie sind nach Alexandria unterwegs?" Dabei wies er mit der beringten Hand einladend auf einen mit Schnitzereien versehenen schwarzen Sessel, der dem Schreibtisch schräg gegenüber stand. Beekn wartete, bis Lukowsky sich gesetzt hatte, ließ sich dann ebenfalls nieder und bot ihm Zigaretten an: „Die türkischen sind die besten, glauben Sie mir!" Lukowsky glaubte es, dankte und zündete sich eine Zigarette am dargebotenen Feuer an. Der Mann hinter dem Schreibtisch schob Papiere zur Seite, um das verschnürte grüne Paket in Empfang zu nehmen, welches Lukowsky noch immer unter dem Arm trug. Jetzt legte er es auf die schwarze Tischplatte: „Ich hoffe, es ist das richtige." Er beobachtete unwillkürlich den unsteten, spürbar gierig auf das Paket gerichteten Blick des älteren Mannes. Dessen Hände hielten es jetzt fest. „Das hoffe ich auch", sprach Beekn betont ruhig. Doch Lukowsky fühlte die Ungeduld in seiner Stimme mitschwingen und bemerkte das Aufflackern eines sonderbar irren Feuers in Beekns Augen. Einen Moment lang konzentrierte sich Beekn gänzlich auf das grüne Paket. Schließlich schob er es ein wenig zur Seite, ohne es aber loszulassen, die kräftigen Finger seiner Hand hatten sich in dem grünen Packpapier geradezu festgekrallt und schienen nicht stillhalten zu können. Beekn fragte: „Sie fliegen also anschließend nach Alexandria?" – „Und dann über Palermo und ein paar Zwischenstationen zurück," erwiderte Lukowsky. Beekn fuhr fort: „Hätten Sie noch Platz für diese drei Kisten?" Er sah dabei auf die an der Zimmerwand gestapelten Holzkisten. Lukowsky blickte sich um: „Sofern ich mit dem Inhalt beim Zoll keine Schwierigkeiten bekomme." - „Es handelt sich um eine Sendung für die Firma Rolland & Löw in Köln." Beekn entfaltete die vorbereiteten Papiere: „In Alexandria kämen noch zwei ähnliche Kisten hinzu. Natürlich kann ich dafür keine üblichen Luftfrachtpreise bezahlen, wie Sie verstehen werden. Aber da der entsprechende Platz in Ihrem Flugzeug sonst ohnehin leer bliebe... nicht wahr?!" Lukowsky forschte: „Was ist drin?" Der Mann hinter dem Schreibtisch lächelte nachsichtig: „Kein Rauschgift oder dergleichen." Lukowsky drückte die Zigarette aus: „Es wird ziemlich lange dauern zu erfahren, was sich in den Kisten befindet, wenn Sie erst alles aufzählen, was nicht drin ist." Er beobachtete, wie Beekn mit seiner freien Hand wahllos Papiere hin- und herschob. „Kunstgegenstände! Oder ganz korrekt ausgedrückt: Kunstgewerbliche Gegenstände, " sagte er schließlich: „Manches ist auch ausgemachter Kitsch. Das ganze geht über Carnet, weil der Kunde Remissionsrecht hat." Lukowsky nickte: „Schön. Aber Köln ist für mich ungünstig. Wir landen in Mönchengladbach. Soll die Ware von dort per Bahnexpress weitergeleitet werden?" Beekn zögerte mit der Antwort. Er blätterte in einem länglichen Terminkalender: „Warten Sie mal, Herr... Sicherlich können Sie die Ware vorübergehend in einem trockenen Lagerraum unterbringen?" – „Das kommt drauf an, für wie lange." „Zirka eine Woche." Beekn ließ vom Terminkalender ab: „Ich habe dann ohnehin in Köln zu tun. Rolland & Löw ist mein Hauptkunde. Kontaktpflege, wissen Sie. Außerdem ist man ganz gern mal wieder daheim. Ja, bei der Gelegenheit könnten wir uns treffen, und ich sorge dann für alles noch Notwendige!" Lukowsky deutete ohne sich umzusehen auf die Kisten hinter sich: „Sie sind ganz sicher, daß da nur Kunst und Kitsch drin ist? Mir kann’s ja gleich sein!" Er steckte die Papiere ein: „Wenn Sie mir dann noch den Empfang des Pakets da bestätigen wollen – ein paar Worte auf einem Zettel genügen." Beekn sah Lukowsky unkonzentriert an: „Richtig! Selbstverständlich, ja... Ich bin auch gern bereit, diese Kleinigkeit sofort zu bezahlen." – Lukowsky sagte: „Das geht alles über Wenzl. Und sie melden sich dann." Lukowsky verabschiedete sich. Beekn nickte bestätigend mit dem Kopf. Noch immer hielt er das grüne Paket mit einer Hand fest, er hatte es während der ganzen Zeit nicht losgelassen. „Wir telefonieren!" rief Beekn, als Lukowsky das Zimmer schon fast verlassen hatte. Lukowsky wandte sich noch einmal um: „Sollte ich in Düsseldorf nicht zu erreichen sein, verlangen Sie Herrn Schäurer."

Über dem Mittelmeer, hoch über blitzenden Wellenkämmen und unter gleißender Sonne, verlor alle Gegenwart ihre Gewalt über die Männer in den Flugzeugen. Schweigen schien in den Rümpfen der Maschinen zu herrschen. Das eintönige Brummen der Motoren empfand man nicht mehr. Es war wie wenn es keine Zeit gäbe. Das Leben war der gegenwärtige Augenblick, und der stand still, allein die Luft und die Wolken bewegten sich draußen daran vorbei.

Zwischenlandung. – Zwei Schüsse durchschlugen die Stille einer wüstenähnlichen Landschaft. Eine Blechbüchse sprang von einem Kanister. „Heute gewinne ich!" lachte Felix Schäurer. Lukowsky drehte an der Trommel seines altmodischen Sauer & Sohn Western-Revolvers, der schon so manches mitgemacht hatte, schob den Entladestab auf und ab, lud nach. Sie steckten ihre Waffen zurück und lauerten. Ein Reisewecker rasselte, wurde übertönt von den Schlägen schwerer Kaliber. Leere Zigarettenschachteln tanzten durch die Luft. Auf brünierten Läufen reflektierte die Mittagssonne.

Des Flugzeugs altes Metall war so heiß, daß man meinen mochte, es stehe unmittelbar vor dem Schmelzpunkt. Lukowsky kletterte als erster in die Maschine. In der Kanzel schien sich alle Glut versammelt zu haben, die aus den zahllosen Rissen des brüchigen Erdbodens aufstieg. Einen gewaltigen Schweif weißgrauen Staubs hinter sich lassend, rollte die C-47 an, stieg langsam und behäbig über halb zerfallene Holzzäune und Skelette dürrer Bäume. Hinter der von Hitze flimmernden Luft verschwammen Land und Stadt. Der Himmel war rein und jung.

Das winzige, zweidimensionale Miniaturflugzeug auf der Armatur pendelte in die Waagrechte. Lukowsky drückte das Steuerhorn leicht nach vorn, zog wieder ein wenig hoch, nahm das Gas zurück und ließ das Fahrwerk kommen. Ein deutlich vernehmbares Rucken, dann setzten die Räder auf. Das Spornrad zuletzt. Er hatte Mühe, die Maschine auf gerader Linie ausrollen zu lassen. Das lag an den verschlissenen Bremsen. Endlich stand das Flugzeug an dem vorgesehenen Platz. Lukowsky ließ die Motoren ausgehen, wischte mit dem Ellenbogen über die Seitenscheibe und blickte hinaus. Niemand erwartete sie. Einzig die Beamten des Zolls würden gleich auftauchen und müßige Fragen stellen. Lukowsky schritt über den Rasen, hielt kurz inne, die Glieder und blinzelte in die Sonne.

Gegen Abend saß Ernst Lukowsky noch im Flughafenrestaurant, das von Sportfliegern stark frequentiert war. An mehreren Tischen konnte man sie schwadronieren hören. Vom Balkon aus, auf dem er saß, hatte man eine gute Sicht über das gesamte Gelände. Er sah, wie die Männer der Zollfahndung sich an seiner Maschine zu schaffen machten. Das war üblich so.

Bald begann ein hübsches Lichterspiel. Die Flughafenbefeuerung wurde ausprobiert. Eine kleine Cessna schwebte ein, zuletzt noch eine Morane. Es startete aber niemand mehr. Die Sportflieger liebten schönes Wetter, den hellen Tag. Dieser Platz gehörte einem privaten Aero-Klub. Gäste wie Lukowsky oder Schäurer traf man hier verhältnismäßig selten, jedoch nicht ungern, boten doch ihre ungewöhnlichen alten Flugzeuge ein interessantes, sogar als romantisch empfundenes Bild. Manch einer, der die rauhen Männer der «wilden Transportfliegerei» sonst tunlichst mied, grüßte hier freundlich. Das war sogar ehrlich gemeint, denn dies bildete einen Kreis, die Flugzeuge, das Fliegen und alles was dazu gehörte. Besonders die alten Hasen, die Kriegs-teilnehmer, hatten Sympathie für die letzten Abenteurer der Lüfte. Nicht selten saß man des abends mit ihnen zusammen, sprach über vergangene Zeiten und Abenteuer, bis der Morgen über den Horizont stieg. Heute aber war von den alten Haudegen keiner anwesend.

Endlich kamen die Zollbeamten an Lukowskys Tisch, mit allen üblichen Papieren. Man kannte sich schon. –

Die Abendsonne hatte ihre Kraft noch nicht vollständig verloren. Lukowsky ging unter einem provisorisch zusammengezimmerten Torbogen hindurch, unter dem das Schild: «Wellmeyers 1A-Ge-brauchtwagen» baumelte. Er betrat einen großen, unebenen Platz zwischen hohen Reihenhäusern, der mit Autos und Autowracks übersät war. In der entlegensten Ecke dieses Platzes stand ein verwitterter Wohnwagen. Ein nicht sehr großer aber stämmiger Mann in mittleren Jahren sonnte sich davor. Dieser Mann streckte sich behäbig in seinem Klappstuhl aus und sah Lukowsky entgegen: „Guck mal, was ich inzwischen reingekriegt habe!" Eine seiner wulstigen Hände wies dabei auf ein großes amerikanisches Coupé: „Chrysler 300, Baujahr 1954. So was gibt’s heutzutage fast gar nicht mehr!" Lukowsky trat an den bezeichneten Wagen und strich mit der linken Hand über das Blech: „Schönes Ding." – „Müssen wir morgen aufpolieren. Und dann gibt’s noch ein paar Autos, die wir auf ‚Erstbesitz-unfallfrei’ bringen müssen." Der Händler atmete aus, als habe er bisher die Luft angehalten: „Wie lange bleibst Du denn diesmal?" Lukowskys Blickrichtung wechselte, von dem Chrysler zu Wellmeyer: „Weiß ich noch nicht. Ich muß mit Dir reden." – „Meinetwegen", Wellmeyer breitete die Arme aus: „Reden wir! – Worüber?" Lukowsky angelte eine Sitzgelegenheit aus dem Wohnwagen und ließ sich neben dem Firmeninhaber nieder. „Ich brauche einen kleinen Kredit von dir. Die Banken werden mir keinen geben." Wellmeyers Augen verengten sich zu Sehschlitzen, sein Kinn trat um einen Zentimeter hervor. Er sprach leise: „Wieviel denn?" Lukowsky zeigte über den Platz auf einen alten Ford Mustang und sagte: „Was beispielsweise die Rostlaube da kostet: "Er beugte sich vor und stützte die Hände auf die Knie: „Außerdem deine Adresse, damit ich ihn gleich hier anmelden kann." Der behäbige Mann neben Lukowsky zupfte bedächtig am Kragen seines gelben Hemdes. Er senkte den Kopf und schielte aus den Augenwinkeln zu Lukowsky: „Wozu brauchst Du denn ein Auto? Ich denke Du fliegst?" Lukowsky fragte: „Machst Du’s, oder machst Du’s nicht?!" „Ja, ja!", wehrte Wellmeyer mit plumper Geste ab: „Die paar Mark bringst du schon mal wieder ein. Außerdem sind wir ja fast Freunde." Lukowsky sagte: „Danke. Ich probiere für einen Bekannten eine kleine Luftfrachtfirma aufzuziehen. Da werde ich mit diversen Leuten reden und herumgurken müssen. Wenn schon ein Auto, dann eines, das mir Spaß macht. Solch einen Mustang hatte ich schon mal, vor ziemlich langer Zeit." Wellmeyer nickte ihm zu: „Gut. Ist gut!"

Es war ein großes, unmöbliertes Zimmer, dessen Balkon am ersten Stock über einem sauberen Hinterhof hing. Von dort sah man rechts eine graue Hauswand, links ein flaches, mit Teerpappe gedecktes Dach, geradeaus eine nicht sehr hohe Mauer. Dahinter erhob sich der Glasturm eines Bürohauses in den Himmel, die Sonne reflektierte auf den zahllosen Fenstern wie auch auf denen der näher stehenden Reihenhäuser. Im Hof, zwischen den Mauern, grünte ein Stachelbeerstrauch, dessen Früchte niemand aß. Doch die Vögel bedienten sich freudig, dankbar für Stachelbeeren mitten in der Stadt Düsseldorf.

Der Himmel nahm eine violette Färbung an. Es war etwas Eigenartiges um diese Stimmung. Abendrot und Morgenröte – Sterben und Geborenwerden – beides lag dicht beieinander. Womöglich gibt es keinen Tod, nur eine ewig währende Wanderung durch Abendrot und Morgenröte, von einer Welt in eine andere? Keib Werden und Vergehen, sondern ein Wandern als immer derselbe, so wie die Sonne immer als wieder dieselbe über der Erde aufging, nicht gestorben und wiedergeboren, sondern gleich geblieben. –

Die grüne Farbe des Balkongeländers bröckelte unter fortschreitendem Rost. Zu Lukowskys Füßen lagen mehrere leere Blumenkästen aus grünem Plastik. Der Vormieter dieser Räume, eine Werbeagentur, hatte sich nicht mehr darum gekümmert. Ernst Lukowsky trat vom Balkon in das unmöblierte Zimmer. Die Balkontür stand offen. Deren Glas zeigte einen Sprung von der Mitte rechts bis zur linken unteren Ecke. Er ging durch den schmalen Flur. Dort rochen die Wände nach frischer Farbe. Drei Türen führten jeweils zum Bad, zur Toilette und zur Küche. An den Flur schloß sich eine Diele an. Von hier aus führten zwei hohe, breite Türen in geräumige, aber leere Zimmer, deren Fenster auf eine belebte Straße wiesen. Gegenüber sah man das Polizeipräsidium. Lukowsky schaute aus einem der Fenster, überblickte die doppelspurige Straße. Da gab es eine Verkehrsinsel, die zugleich eine Straßenbahnhaltestelle war. Lukowsky ließ sich auf der Fensterbank nieder. Der Abend schritt voran. Allmählich schwand das Tageslicht. Die Nacht kam. Lukowsky ging in die Diele. Hier stand das einzige Möbelstück all dieser Räumlichkeiten: eine Couch. Die schob er vor sich her in das hintere Zimmer, das mit dem Balkon. Er schlief nicht auf der Couch im Balkonzimmer, obwohl er regungslos dalag und zu schlafen versuchte. Durch die gardinenlosen Fenster fiel bläulicher Mondschein. Scharfe, unbewegliche Schatten lagen im Raum. Lukowsky ließ den linken Arm von der Couch gleiten, tastete über den nackten Boden, bis er Zigarettenschachtel und Streichhölzer fand. Er zündete sich eine Zigarette an und ließ Schachtel und Streichholzkästchen wieder zu Boden fallen. Er beobachtete den hellblauen Zigarettenrauch, der hin und wieder im Schatten des Fensterkreuzes zu verschwinden schien. In diesem von der Straße abgelegenen Raum lag eine nahezu unnatürliche Stille. Lukowsky meinte das kaum wahrnehmbare Knistern der Zigarettenglut hören zu können. – Es war merkwürdig, etwas lag in der Luft. Dies empfand er, ohne es zuordnen zu können: Eine merkwürdige Stimmung. Ihm war... als höre er die Schwingen des Schicksals rauschen. Er wunderte sich darüber, daß ihm solch ein pathetischer Gedanke in den Kopf kommen konnte.

Das Telefon klingelte. Er raffte sich auf und lief durch den nach Farbe riechenden Flur in das vordere Zimmer. Er nahm den Hörer ab: „Ja?!" – Beekn meldete sich. Lukowsky unterbrach dessen ersten Satz: „Nein, morgen vormittag geht’s nicht. – Nachmittag... – Spätnachmittag! Meinetwegen. Sagen wir 17 Uhr. – Im «Mondial». – Ja, das kenne ich. – Ja, ist gut! Wiederhören." Beekns Stimme hatte sonderbar geklungen, so, als sei er erstaunt über den Erfolg seines Anrufs gewesen, als hätte er gar nicht damit gerechnet, Lukowsky zu erreichen. Lukowsky legte auf und sah zur Uhr. Eine Unruhe packte ihn, eine innere Ruhelosigkeit, für die es keinen erkennbaren Grund gab. Ein sonderbares Gefühl überkam ihn, eines, das er bisher nicht gekannt hatte, eine unbestimmte Vorahnung, unkonturiert und doch: Es würde etwas Merkwürdiges, Schicksalhaftes geschehen – sehr bald. Er schalt sich einen Narren bei dem Gedanken – und dachte ihn trotzdem.

Er hatte noch Bernd Meißner in dessen Wohnung am Stadtrand besucht, Bernd Meißner, mit dem zusammen jetzt eine kleine eigene Luftfrachtfirma entstehen sollte. Es gab einiges zu besprechen. Bernd hatte nicht allzu viel Lust, über die ernsthaften Seiten der Sache zu reden. Aber sie besprachen doch was nötig war und was geschehen sollte. Darüber wurde es Nacht und Morgen. Ein Taxi brachte Lukowsky in die Innenstadt zurück. Bernd Meißner hatte zu viel getrunken, um noch Autofahren zu können. Lukowsky ließ sich in der Altstadt absetzen und ging zu Fuß weiter. Irgendwo klimperte ein verstimmtes Klavier. Er überquerte den Markt. Zelte wurden aufgebaut, vereinzelt Karren geschoben. Der Duft frischgebackenen Brotes wehte herbei. Allmählich stieg die Sonne in den noch diesigen Himmel. Über den Straßen lastete ein ähnlicher Morgendunst wie auf dem Rhein. Ein Straßenkehrauto rollte schäumend vorbei und verspritzte eine Menge Wasser. Lukowsky wich dem reichlich versprühten Wasser aus. Hier und dort begegneten ihm verschlafene Gesichter, von denen einige grundlos grüßten und andere ebenso grundlos mürrisch dreinblickten. Eine Würstchenbude öffnete ihr Geschäft.

Am Vormittag kam ein Lastwagen und brachte Möbel. Lukowsky ließ sie an bestimmte Plätze rücken – einfache Stücke, das Notwendigste nur. Zwischen den Möbelpackern erschien Bernd Meißner im Büro, warf schwungvoll sein Jackett, das er zuvor über der Schulter hängend getragen hatte, auf den runden Tisch, den zwei kräftige Männer Minuten zuvor in der Diele abgesetzt hatten, und rief durch zwei offenstehende Türen: „Tag! Wie geht’s?" Lukowsky wartete, bis Bernd Meißner bei ihm im selben Zimmer war, sagte dann: „Siehst Du ja. Die Klamotten rollen an. Wir schaffen erst mal nur das Allernötigste an." Lukowsky umrundete den glatten Schreibtisch, hinter dem er gestanden hatte, und trat dicht an den jüngeren Mann heran: „Der Klarheit halber: Ich hab’ Dir nicht zugeredet! Auch Felix nicht! Du hast uns am Aero-Klub aufgegabelt, nicht umgekehrt!" – „Ich weiß, ich weiß!" rief Meißner sofort: „Du willst mir wieder väterlich predigen! Kannst Du Dir sparen! Falls es hier ‘ne Pleite geben sollte, träfe ‘s mich am wenigsten! Also laß’ das Gerede." Sie setzten sich nebeneinander auf die Tischkante. Lukowsky griff hinter sich, angelte ein Papier und reichte es dem Jüngeren: „Stimmt das?" Meißner überflog den Brief. „Ja! – Wieso?" „Weil es ziemlich idiotisch war, solch eine Maschine so teuer auf Pump zu kaufen – in unserer Situation." Meißner tat unbekümmert: „Es war eine Gelegenheit. Die Luftwaffe hat sie billig ausgemustert. Sie ist trotzdem noch fast neu. Sie wird sich amortisieren." „Natürlich kann sie sich amortisieren, wenn alles unseren Vorstellungen entsprechend läuft. Aber der Witz ist: für ein Drittel des Geldes hättest du auch eine taugliche Mühle bekommen! Und in die geht auch noch mehr Fracht rein. Eine Do 28 ist kein Transporter." Er nahm dem Jüngeren das Papier aus der Hand: „Sieh zu, daß Du die Sache rückgängig machst, falls möglich." Er legte den Brief auf den Schreibtisch zurück und wies auf die Möbel: „Was ist damit? Auch gepumpt? – Es geht mich zwar nichts an, aber sag’s mir trotzdem." Meißner ließ die Unterschenkel pendeln. Er holte eine zerknautschte Zigarettenschachtel aus der Tasche, bemerkte, daß sie leer war, drückte den weichen Karton zusammen und warf ihn in eine noch unaufgeräumte Ecke des Zimmers: „Laß doch die Fragerei! Ich bin im Notfall durch die Familie gedeckt. Und was die neue Maschine betrifft... Wenn ich meine Lizenz habe, möchte ich auch mal selber fliegen, ohne daß ich froh sein muß, wenn unterwegs nur eine Tragfläche abbricht!" Er machte eine wegwerfende Handbewegung: „Wie bei diesen vorsintflutlichen Bombern!" - „Das ist aber unser Geschäft", betonte Lukowsky: „Daß wir eben billiger und unkomplizierter arbeiten als die großen Gesellschaften!" Meißner schwang sich von der Tischkante, als bedürfe dies eines mächtigen Schwunges: „Ach, mach’ Dir keine Sorgen ums Geld, Ernst! Und außerdem: alte Mühlen mietet können wie ja außerdem. – Bis morgen dann!" Vom runden Tisch lässig seine Jacke greifend, entfernte sich Bernd Meißner.

Für diesen Tag gab es keine Arbeit mehr in dem neu eingerichteten Büro. Lukowsky setzte sich in ein Straßencafé und schlug die mitgebrachte Zeitung auf. Eine hübsche Kellnerin mit einem Pferdeschwanz und freundlichen Augen brachte ihm versehentlich Kakao statt Kaffee. Lukowsky beließ es dabei, weil die Kellnerin so nett war. Der Nachmittag zeigte sich sonnig und warm. Auf dem Rasen der kleinen Parkanlage gegenüber spielten Kinder. Viele Fußgänger verbreiteten eine ferienhafte Stimmung, verweilten lange vor Schaufenstern und unterhielten sich dabei. Lukowsky blätterte nochmals ziellos in der Zeitung. Er las, Wissenschaftler vermuteten, es könne auf dem Mond Wasser geben, und falls nicht da, so wenigstens auf dem Mars. Auf der gegenüberliegenden Zeitungsseite stand, daß man Pläne schmiede, mit Spezialgeräten nach dem Wrack der Titanic zu suchen, um deren Schätze zu bergen. Es wurde nach Investoren für dieses Projekt gesucht. Lukowsky war beides ziemlich egal. In einer Glosse neben dem Artikel über den Mond stand zu lesen, einige Spinner behaupteten, die berühmten Fliegenden Untertassen, die sogenannten UFOs, kämen gar nicht von anderen Planeten, sondern seien deutschen Ursprungs, eine letzte Geheimwaffe aus dem Zweiten Weltkrieg. Lukowsky ließ die Zeitung liegen und brach auf. Er stieg in den frisch erworbenen Mustang und fuhr nach Köln zu seiner Verabredung mit Beekn. Der Mustang war weder neu noch in besonders repräsentativem Zustand, aber immerhin eine Ausführung 390 GT, recht schnell und dank einer Heavy-Duty-Ausrüstung war er sogar halbwegs vollgasfest, was von amerikanischen Wagen im allgemeinen nicht behauptet werden kann. Er war weinrot und laut, der Auspuff konnte gelegentlich eine Reparatur vertragen.

Popmusik wütete im Hotel «Mondial». Das einzige Licht rührte von Punktscheinwerfern, die auf einen Laufsteg gerichtet standen. Kameras blitzten auf, Mannequins hopsten oder marschierten ohne nennenswerte weibliche Anmut über den tuchbespannten Laufsteg, posierten in kuriosen Stoffkonstruktionen von durchaus zweifelhaftem Geschmack und bemühten sich, möglichst nicht zu lächeln. Die Vorstellung eines des großen Modeschöpfer war das nicht, eher eine Schau des Banalen, adäquat der banalen Musik. Nur ein Mann im Saale langweilte sich offenbar ebenso wie Ernst Lukowsky, ein stattlicher Herr im Maßanzug, der unentwegt türkische Zigaretten rauchte. Dieser Herr trat an den Tisch, an dem Lukowsky sich niedergelassen hatte, setzte sich und sagte: „Guten Abend, Herr Lukowsky!" Der kaum Musik zu nennende Lärm nahm Beekns Stimme den Klang, verschlang auch Lukowskys Erwiderung des Grußes. Über den Laufsteg stapfte ein hellblond gelocktes Mädchen in gelbem und rotem Satin – wie ein Harlekin. Nun lief es zurück, machte einem anderen Platz. Dieses hatte schwarze Haare, die gefärbt wirkten, und war gekleidet wie ein Altberliner Gassenjunge. Zwei Gänse betraten anschließend die Bühne, dazu ein junger Mann, der schwul aussah und es womöglich auch war. Lukowsky interessierte die Modenschau nicht.

Unterdessen befanden sich noch weitere Desinteressierte in dem von Rockmusik, Klatschen und mattem Licht erfüllten Saal. Deren Interesse schien Beekn zu gelten. Lukowsky fragte: „Kennen Sie die Leute da?" Beekn sah sich flüchtig um: „Nein. Lassen Sie uns trotz des Radaus versuchen, die wesentlichsten Dinge zu besprechen." Er kniff die Augen zusammen: „Ich ließ gestern Mittag meine Ware von der Spedition abholen. Sie ist mittlerweile wieder dort." – Gerade tobte die von ferne musikähnliche Lärm mit gesteigerter Lautstärke. Beekn wiederholte: „Ich sagte, die Kisten sind mittlerweile wieder bei der Spedition. Möglicherweise wird mein Kunde die Ware nicht akzeptieren. Sollte dieser für mich unangenehme Fall eintreten, könnten Sie die Ware sicherlich rasch zurückfliegen und neue herbringen?" Er zog die Augenbrauen zusammen und neigte sich zu Lukowsky, um beim Krach der Musik und des Klatschens besser verstanden zu werden: „Dann täte allerdings Eile not." Lukowsky sagte: „Wenn ich dafür eigens eine Maschine besorgen müßte, würde das verhältnismäßig teuer. Falls es Ihnen das wert ist?" „Wahrscheinlich schon", entgegnete Beekn mit abwehrender Geste: „Die Kosten lassen sich doch in vernünftigen Grenzen halten?" Er schien keine Antwort zu erwarten: „Zunächst muß Herr Löw ja noch persönlich entscheiden", fuhr er fort: „Ursprünglich wollte ich noch – etwas anderes ansprechen... " Er unterbrach sich: „Dieser Lärm ist wirklich unerträglich!" Der blendende Strahl eines Punktscheinwerfers verirrte sich während einer Viertelsekunde auf den Tisch, an dem Beekn und Lukowsky saßen. Mechanisch kniffen beide die Augen zusammen. Doch der Lichtkegel vereinigte sich bereits wieder mit den übrigen auf ein plump gekleidetes Mannequin. – Lukowsky fragte: „Was soll vorerst mit den Kisten geschehen?" Beekn beugte sich noch näher zu ihm: „Ja... die Kisten." – Seine Augen wirkten plötzlich unstet, die Hände lösten sich von den Stuhllehnen: „Bitte entschuldigen Sie mich. Ich – werde mich bei Ihnen melden. Bitte..." Offensichtliche Nervosität veränderte Beekns Stimme: „Bleiben Sie sitzen als kennten wir uns nicht! – Ja." – Er zögerte: „Wegen der Kisten... Ach, übrigens – falls ich Sie innerhalb der nächsten Tage nicht erreichen sollte... Sie haben ja die Anschrift von Rolland & Löw. Merken Sie sich..." Er sah sich rasch zwischendurch um: „Ja, merken Sie sich das Bearbeitungszeichen «Z» wie Zukunft oder Ziel. Damit man nichts durcheinanderbringt bei Rolland & Löw." Er wandte sich zum Gehen: „Verlangen Sie am besten die Herren Busch oder Fischer – ja." Sein Blick irrte nochmals schnell umher: „Auf Wiedersehen, Herr Lukowsky, auf Wiedersehen." – Damit verschwand Beekn im Gedränge. Seine rechte Hand zeigte noch eine grußähnliche Geste, ehe der Hintergrund ihn vollständig verschlang.

Vom Laufsteg grinste eine pagenköpfige Gans in schillernden Fetzen. Der sonderliche Mann war auch wieder da, er sprang hin und her, und dan sagte er ein paar Worte. Sobald er zu sprechen aufhörte, nahm die Lautstärke der Musik wieder infernalische Ausmaße an. Ein rothaariges Mannequin schlüpfte unter dem Vorhang hervor, lächelte. Der Bursche sagte wieder etwas, und dann tobte die Musik abermals los. Zwei Mädchen marschierten dazu über den Laufsteg. Neben Lukowsky hatte eine junge Frau den von Beekn verlassenen Platz eingenommen. Sie machte Notizen in ein kleines, plastikgebundenes Heft, sie war vermutlich Journalistin. Ihre Schultern wiegten im Rhythmus der wilden Klänge. Von sich drehenden Spiegeln herab huschte farbig reflektiertes Licht über ihr Gesicht. Ganz plötzlich lächelte dieses Gesicht nicht mehr, die Züge verzerrten sich. Langsam begann die Frau bis und Kinn. Dann schlug der Kopf auf die Tischplatte. Dickes Rot spritzte auf den Tisch. Noch einmal hob sich der Kopf – die Frau stürzte zu Boden. Mehrere Stimmen schrillten. Ein pudelköpfiges Mannequin rannte kreischend zu dem blauen Velourvorhang, stürzte, raffte sich auf, schrie, stürzte abermals. Lukowsky bückte sich von seinem Stuhl, schob Umstehende beiseite, riß gleichzeitig seinen Revolver aus dem Hosenbund, streifte mit der linken Hand über den Hahn, visierte ein kariertes Jackett an und tippte den Abzug an. Im grellen Feuerschlag verließ das Geschoß den Lauf. Das karierte Jackett zerfetzte fast im selben Moment. Geruch von Nitropulver und blaugraue Schwaden vermischten sich in der stickigen Luft. Für den Bruchteil einer Sekunde stand der Feuerball eines zweiten Mündungsblitzes im Raum. Die Trommelfelle surrten und sangen seit dem ersten Knall der .44-Spezial. Auch sein zweiter Schuß erfaßte einen mit Pistole bewaffneten Mann, schleuderte ihn meterweit rückwärts, wirbelte ihn herum, ehe er zusammenbrach. Dennoch heulten zwei weitere Kugeln aus unbekannter Richtung heran. Lukowsky entdeckte den Gegner nicht in dem chaotischen Menschengewirr. – Körper stürzten – liefen – wälzten sich am Boden – blieben regungslos liegen – bäumten sich auf – wurden getreten von kreischenden Menschen – Hasten hub an – rücksichtsloses Drängen und Stoßen – Panik. Das pudelköpfige Mannequin griff sich an sein von einem Querschläger gestreiftes Fußgelenk und schrie, schrie – aber es gab keine Hilfe in diesen Augenblicken, keine Antwort auf Hilferufe. Alles drängte zu den Ausgängen, türmte sich übereinander, zerriß Kleider und Haut. Von Tonbändern abgespielte Musik dröhnte ungerührt aus verdeckten Lautsprechern, durchbrochen von einzelnen Schüssen großkalibriger Waffen und den Angstschreien vieler Menschen. Lukowsky zwängte sich durch die hysterische Masse. Er redete sich ein, den günstigsten Moment abzuwarten und sprang auf den Laufsteg. Er stieß in den blauen Velours, warf sich auf den provisorisch errichteten Bretterboden und richtete seinen Revolver gegen den Saal. Lukowsky wartete auf den Mann im Maßanzug, wartete im Inferno. Hinter seinem Rücken flohen mehrere junge Männer noch eiliger, als es die Mädchen vermochten. – Lukowskys Blick suchte Beekn. – Nur mehr ein Gegner schoß. Lukowsky bemühte sich ungeduldig, anhand des Mündungsfeuers dessen Standort auszumachen. Aber jetzt fiel kein Schuß mehr. – Das Mannequin auf dem Laufsteg kreischte wie von Sinnen, sicher mehr aus Angst als vor Schmerz. – Uniformierte Polizisten erschienen im Saal. Lukowsky sah sich um: eine grau Metalltür stand einladend offen. Trotzdem verharrte er..., aber Beekn tauchte nirgends auf. Die Musik grölte noch immer, sie klang passend brutal.

Unbemerkt gelangte Lukowsky auf sein für diesen Tag im «Mondial» gemietetes Zimmer. Er nahm ein Handtuch und wischte sich über das Gesicht. Er trat mit dem Tuch in der Hand auf den Korridor: Nichts. – Er ging in das Zimmer zurück. Das Blut pulste ruckartig an den Schläfen. Er lud den Revolver nach. Die Patronen schlüpften in die Kammern der Trommel. Der Lauf, auf dem der Schriftzug «J. P. Sauer & Sohn – .44-Magnum» stand, war warm. Lukowsky lud .44-Spezial nach, eine Patrone, die im schnellen Gefecht praktikabler war als die Magnum. Nochmals öffnete Lukowsky die Tür – lauschte: Stille. Er kehrte um. Seine Lage war unangenehm oder konnte jedenfalls unangenehm werden. Er steckte die Waffe in den Hosenbund und hob die leeren Patronenhülsen vom Teppich auf. Unwillkürlich dachte er daran, sie wegen des niedrigeren Preises wie stets wiederladen zu lassen, obwohl seine Sorgen jetzt wahrlich andere waren. Beekn hatte er nicht mehr entdeckt. Vielleicht war der getroffen worden und sofort gestürzt. Lukowsky ging zum Fenster und sah hinaus. Unten, auf dem Betonplatz vor dem Hotel, herrschte Tumult. Sanitätsfahrzeuge hielten neben Polizeiwagen. Bahren wurden getragen. Auf manchen lagen völlig verhüllte Gestalten. Eine davon war vermutlich Beekn. Es würde morgen in der Zeitung stehen. Lukowsky nahm seine Gedanken zusammen. Dieses war kein viertklassiges Hotel. Hier stand sein Wagen in einem mehrgeschossigen Parkhaus, dessen obere Plattformen allein per Aufzug erreicht werden konnten. Auf einer dieser oberen Etagen stand sein weinroter Mustang. Lukowsky massierte mit beiden Händen das Gesicht. Allmählich ließ das Ohrensausen nach. Ein leise singendes Pfeifen verblieb noch. Er zog den kleinen Koffer vom Tisch und griff sich frische Kleider. Er ging ins Bad und ließ Wasser einlaufen. Neben dem Bett stand ein Radio. Lukowsky schaltete es ein und gleich wieder aus. Gerne hätte er die Situation schnell bereinigt, in dem er diesen Schauplatz verlassen wollte, doch das ging jetzt nicht. Von der Straße herauf tönten starke Motorengeräusche. Ein Martinhorn heulte. – Lukowsky ging zurück ins Bad. Durch die offene Tür des winzigen Badezimmers erblickte er das Telefon auf dem Nachttischchen. Es würde jetzt niemand anrufen.

Er lag auf dem Bett, rauchte Zigaretten und sah zur Decke. Das Ohrensausen war vorüber. Aber er konnte keinen festen Gedanken fassen. Nur eine namenlose Gleichgültigkeit tauchte in ihm auf, von irgendwo.

………

 

 

       
               
               
     

       
               
               
Überblick Ausblick Einblick Rückblick Rundblick Galerie Tonarchiv

Home


Um an die Stelle  "zurück"  zuspringen, von der Sie gekommen sind,   verwenden Sie bitte den  "Zurück-Pfeil"  Ihres Browsers !