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Die Tango-Villa

       
     
       
     

Die Tango-Villa

       
     
       
     

Die Tango-Villa

Es gibt ein Haus, eine alte Jugendstil-Villa. Irgendwo. Schon Jahrzehnten steht sie zumeist unbewohnt an ihrem ungenannten Platz, an einem Ort, der für unsere heutige Geschichte keinen Namen braucht.

Die Zeit hat an dem alten Haus ihre Spuren hinterlassen. Doch immer noch ist es schön. Ungebrochen läßt sich erahnen, wie es in seinen besseren Zeiten um dieses Bauwerk bestellt war, als dort Feste gefeiert wurden, oder gebildete Menschen kluge Gespräche miteinander führten.

Diese Zeit ist vorbei. Vom heutigen Blickpunkt aus. Aber das Haus ist noch da. Und mit ihm auf sonderbare Weise alles, was dort einmal war, was in ihm seine Schwingungen entfaltet hat. Denn diese vergehen ja nicht. Jede Zeit hat an ihrem Ort ihre speziellen Schwingungen zu der sie gehört – oder diese zu ihr. Das ist immerzu lebendig – und jede Zeit ist ewiglich: in eben dieser bestimmten Phase.

Es ist, als ob die bewußten Schwingungen den inneren Astralkörper des Bauwerks bilden würden, welches sich um diesen geformt hat. Zwar hat es sich, genau genommen, nicht um diese geformt, sondern sie sind in es eingezogen. Die Wirkung ist ein und dieselbe.

So ist es und wird es sein, solange die alte Jugendstil-Villa steht. Und sie steht in einem inneren Land, welches die Menschen bewerkstelligen, die mit dem Haus Dinge und Erinnerungen verbinden. So ist dies denn abermals frei von der Zeit. Denn im Grunde hat die Zeit keine Macht. Auch nicht über die Menschen. Bloß diese wissen es nicht.

Stünde das Haus einmal nicht mehr und könnte niemand es mehr mit den äußeren Augen sehen, so bliebe es im inneren, nicht nur diesseitigen Land dennoch bestehen. Denn das ist dauerhafter als das äußerlich Sichtbare.

Aber noch ist das Haus da. In dieser Welt und in dieser Zeit. Es hat noch vieles zu bieten. Vieles, was allein jene verstehen und empfinden, die auch durch das innere Land zu gehen vermögen, die das Haus noch so sehen können, wie es in früherer Zeit war. Das gelingt all jenen, die sich dies vorstellen können. Allen, die von der Wesensart eine Ahnung haben, davon, wie sich diese gestaltet.

Sie brauchen nicht im einzelnen zu wissen, wie es sich um die verschiedenen Ebenen der Zeit zwischen Diesseits und Jenseits verhält. Es reicht aus, das zu erfühlen – unbewußt. Ja, ein Haus, dem menschlicher Geist gewissermaßen ein astrales Gegenstück erschuf, ist zeitlos. Wer es besucht – sei’s auch zufällig womöglich – nicht genau wissend um die Besonderheiten der Zeitflüsse diesseits und jenseits der Gegenwart, wird dennoch das innere Leben des Hauses erfassen. Vielleicht ohne es zu begreifen. Und doch! Darum haben manche Gebäude in der Tat eine Seele - gewissermaßen.

Möglich, diese Bezeichnung trifft die Sache nicht ganz. Aber kommt es zu dem, um was es jetzt geht, dann ist jedes Jahr und jeder Tag immerzu nahe. Man kann durch die Zeitritzen schauen – mitunter -, wenn diese sich auftun. Und das tun sie, wenn die Besucher ihre Gedanken daraufhin ausrichten oder – andersherum: wenn das Innen sich dazu hingezogen fühlt.

Das Haus selbst hat zwar kein Bewußtsein – doch vom Bewußtsein der Menschen, die einst in ihm lebten, hat sich da etwas Namenloses gebildet. Das ist da.

Denn jedes Jahr, jeder Tag, jede Stunde – jede Zeit, die auf Erden einmal Gegenwart war, bleibt es ja auf immer. Die Zeit verschiebt lediglich ihre Position. Aber, ja, alles ist immerzu da.

Auch wir Menschen sind so in zweifacher Hinsicht ewig in der Zeit, die wir durchleben. Allein: dessen sind die auf Erden Wandelnden sich zumeist nicht bewußt. Obschon sie es wissen könnten! Jedes Déjà-vu, wie es jeder von uns da und dort schon erfahren hat, ist ja nichts anderes als Erinnerung an bereits Erlebtes! Und ebenso, wie uns zurzeit Gegenwärtigen dergleichen widerfährt, ist es auch Früheren geschehen. Früheren, die in der Zeit vor uns waren. So etwa in jener Jugendstil-Villa. Vielleicht nennen wir das dann re-manes-tion? Ein ungebräuchliches Wort, welches wir re-in-carna-tion gegenüberstellen, was etwas anderes wäre. Aber: zurück in die Seele (manes) einer vergangenen irdischen Erscheinungsform? O ja, vieles ist möglich! – Geht nicht zu dem alten Haus!“ so sagen im nahen Ort die Eltern zu ihren Kindern: „Das ist kein Spielplatz! Das Haus ist sehr alt. Niemand bewohnt es. Mauerbrocken können herunterfallen. Das wäre gefährlich“. Davor warnen die Eltern ihre Kinder.

Nicht etwa vor unheimlichen Dingen, von denen nur wenige munkeln. Auch nicht, weil die Besitzer der Villa keine Kinder dort wollten. Ohnehin: Niemand kennt die Besitzer. Nur alle Jahre einmal, im Herbst, ehe der Winter naht, kann man ein riesengroßes altes Auto herangefahren kommen sehen. Es ist dunkel, blinkt voller Chrom und hat Weißwandreifen. Die Jungens im Ort kennen es, denn es kommt immer zur gleichen Jahreszeit. Doch er Wagentyp ist allen unbekannt. Ein sehr altes Auto. Das fährt dann zu der Villa hinauf. Wer dort aussteigt, sah noch niemand. Und sehr bald rollt das alte Auto wieder davon. Niemand weiß, wohin. Wie keiner weiß, woher es kommt.

 

Das alte Haus, jene Jugendstil-Villa, hat einen Namen. Dem Vernehmen nach, erhielt sie ihn in den 1920er, vielleicht auch in den 1930er Jahren: Die „Tango-Villa“. Weil dort einst häufig Feste gefeiert wurden, zu denen man immer wieder dieselbe Tanzkapelle engagierte. Und die spielte vornehmlich Tangomusik. Es war eine kleine Kapelle. Gerade geeignet für eine Villa von mittlerer Größe, in der sich eine nicht allzu große Gesellschaft vergnügte. Und das eben auch gerne beim Tanz, sofern nicht wieder einmal anregende Kulturgespräche geführt wurden. Davon wissen die alten Leute im Ort noch ein bißchen. Vom Hörensagen. Und manchmal – so heißt es – kam es auch vor, daß man auf der Tango-Villa spiritistische Seancen abhielt oder sich anderweitig mit den okkulten Angelegenheiten der geistigen Welt befaßte. Besonders die Dame des Hauses neigte dergleichen zu. Sie hieß Viola. Manche meinen, sie sei Spanierin gewesen. Doch niemand weiß es genau. Frau Viola hatte viel von Swederborg gelesen, ohne aber eine Anhängerin von diesem zu sein. Das weiß der Pfarrer. Er wusste es nicht aus erster Hand. Sein Vorgänger erzählte davon. Swedenborgs Schriften hatten Frau Viola nur inspiriert, behauptet der Pfarrer. Der Hausherr, ihr Gatte, hielt davon anfangs nicht sonderlich viel, mochte seiner Frau aber die Freude an solchen Themen nicht verderben. Im Laufe der Zeit interessierten ihn die Dinge dann endlich auch selbst. Im ganzen Ort wußte niemand außer dem Pfarrer, wer Swedenborg war. Es interessierte sich dort auch keiner für mystische Dinge. Wie auch niemand gern Tango tanzte. Von den jungen Leuten konnten das nur sehr wenige.

In der alten Jugendstil-Villa hatte ein anderes Leben und Treiben geherrscht. Verglichen mit der Jetztzeit so anders, wie der große alte Wagen mit seinen über den geschwungenen Kotflügeln stehenden Scheinwerfern gegen heutige Autos aussah. Eine andere Zeit - eine andere Welt.

So geschah es, daß weiland in der Tango-Villa sich Bildungsgespräche, Tanzvergnügen und Okkultismus lebhaft miteinander vermengten. Manchmal wurden die Grenzen zwischen den beiden ersten Bereichen und dem Okkulten auch fließend. Dann konnte es geschehen, daß sonderbare Effekte in Erscheinung traten, die sogar Kenner und Kennerinnen des Mystischen, wie sie oft in dem Haus eingeladen waren, verblüfften. Davon erzählte manchmal die Mutter des Gastwirts im Ort. Sie war, als junges Mädchen, mehrfach in der Tango-Villa gewesen.

Während einiger der besten Jahre, welche dieses Bauwerk erlebte – zwischen den beiden unseligen Weltkriegen – wurde das schöne Haus von manchen Bewohnern der nahen Ortschaft zum Spukhaus erklärt. Obgleich von Spuk dort niemals die Rede sein konnte. Es ging einfach nur insofern Ungewöhnliches vor sich, wie sich unter den Gästen manchmal Personen von sonderbarem Ruf befanden. Etwa Damen, die meinten Geister beschwören zu können, oder Herren, die sich für Hellseher hielten. Manchmal kamen auch Dichter zu Besuch, und sogar Artisten mit wilden Tieren sowie Zauberkünstler aus einem Varieté in der Großstadt. Das Varieté, übrigens, gibt es schon lange nicht mehr.

Die Besucherschaft auf der Tango-Villa war so schillernd wie abwechslungsreich, und manche dieser Personen hinterließ auch Spuren in dem merkwürdigen Haus: Schwingungsspuren. Man konnte diese nicht sehen, wohl aber spüren. Das behauptete die Mutter des Gastwirts im Ort.

An alledem wäre nichts gar so Ungewöhnliches gewesen, hätte nicht eines Tages einer der Jungen, die heimlich bei der Villa gespielt hatten, von Musik erzählt, die dort zu hören sei. Und das kam, als im Fernsehen einmal Tango-Musik erklang. „So ist es auch aus dem alten Haus zu hören!“ rief der Junge. Dabei hatte er wahrscheinlich noch nie zuvor Tango gehört. Das stimmte dann doch einige Leute nachdenklich. Man erinnerte sich des Raunens um allerlei Sonderbares in der alten Villa. Das lag lange zurück – und war vielleicht doch nicht vorbei?

 

Von alledem wußten die Beiden, die nun, Jahrzehnte später, mit ihrem Wagen auf dem Weg zur Tango-Villa waren, nichts. Sie wußten auch nicht, daß die zunehmend schmaler werdende Straße, auf der sie entlangfuhren, zur Tango-Villa führte. Ja, sie ahnten nicht einmal, daß es die Tango-Villa gibt. Sie hatten sich ganz einfach verfahren. Der kühle Wind blies einzelne Herbstblätter über den vom jüngsten Regen noch feuchten Asphalt. Die Sonne schien verhalten zwischen den Wolken hindurch. Es war helllichter Tag. Alles in allem eine beinahe freundliche Witterung. Nicht die Stunde für Gedanken an Dunkles, an Geheimnisvolles, gar Unheimliches. Der Mann und die Frau im Wagen rechneten mit so etwa nicht. Ihre Gedanken schweiften auch nicht in solch eine Richtung. Sie suchten einfach das Haus, in dem sie von Freunden erwartet wurden. Das war nicht alt, sondern vor weniger als zehn Jahren erbaut worden. Es war auch nicht so groß, und davor stand vermutlich auch kein Rhododendron, wie hier. Der Rhododendron blühte nicht mehr. Es war ja schon Herbst. Der Winter war nicht mehr fern.

Die inzwischen fast zu einem schmalen Weg gewordene Straße führte genau zu der Jugendstil-Villa mit ihrer malerischen, phantasievoll gestalteten Formen. Dort endete sie, wo der Asphalt schon brüchig war.

Die beiden Suchenden wußten nun endgültig: sie hatten sich erheblich verfahren. Die Frau auf dem Beifahrersitz telefonierte mit ihrem Mobiltelefon. Sie entschuldigte sich bei den Freunden für die Verspätung. Ja, sie hätten sich doch arg verfahren! Wo sie denn jetzt seien? Bei einem alten Haus. Einer Villa, die einmal sehr schön gewesen sein müsse. Jugendstiel. Sehr romantisch. – Ah, ja: die Tango-Villa! Sagte die Stimme aus dem Telefon: „Das Haus der zehntausend Geheimnisse und Rätsel!“ Niemand habe je etwas ernstlich Ungewöhnliches dort erlebt, doch die Mär von geheimnisvollen Geschehnissen halte sich hartnäckig.

Der Fahrer des Wagens war unterdessen ausgestiegen. Die Beifahrerin sah ihn auf die alte Villa zugehen, um die Veranda herum. Dort gab es eine Treppe mit breiten Stufen. Noch ehe der Mann es recht bemerkte, stand er auf der Veranda und spähte durch matte Fensterscheiben ins Innere des wie verwunschen wirkenden Hauses. Soweit es sich erkennen ließ, entsprach die Einrichtung der Epoche des Gebäudes. Vielleicht gab es da und dort auch Anklänge an Art deco. Auf jeden Fall war nichts modern für die Begriffe des Jahres 2012. Auch die Musik paßte nicht in die Gegenwart; insbesondere nicht in der Instrumentierung: Tango. In einem Stil, wie er um 1930 gespielt worden sein mochte. Das klang nett!

Dem Mann am Fenster auf der Veranda fiel nicht auf, daß in diesem unbewohnt dastehenden Haus keine Musik spielen dürfte. Er hörte sie aber! Und das empfand er als ganz natürlich. Nun sah er auch Gestalten. Nur schemenhaft durch die getrübten Scheiben. Offenbar überwiegend tanzende Paare. Entsprechend zu der Musik. Alles wirkte hoch elegant. Wie aus einem Film von vor 80 Jahren. Die Scheiben waren auch auf einmal klar. Und als er einen Blick zur Seite warf, fiel ihm eine ganze Anzahl von prächtigen Oldtimern auf: Horchs, alte Mercedes, Packards und noch einige andere Typen, die er nicht kannte. Sämtlich in bestem Zustand.

Die Verandatür wurde geöffnet. Eine bildschöne Dame in einem Abendkleid in Schwarz mit Dunkelblau trat ihm entgegen. Ihr dunkelblondes Haar war seitlich gescheitelt mit einem zum Kleid passenden Band verziert. Ebenso dunkelblau waren auch die langen Handschuhe, die sie trug. „Nun kommen Sie schon!“ sprach die Dame mit freundlicher Stimme: „Sie sind der letzte!“ Im ersten Augenblick verwundert, dann aber, als könne es nichts Selbstverständlicheres geben, begrüßte er die Dame und betrat das Haus. Es wunderte ihn nicht, passend zu der Umgebung gekleidet zu sein, obwohl er solch einen Anzug nie besessen hatte, ebenso wenig solche Manschettenknöpfe, und keine solche Schlipsnadel. Jetzt und hier, in der Tango-Villa, schien das ganz einfach so zu sein.

 

Die Dame des Hauses stellte ihn einigen anderen Damen und Herren vor. Die übrigen schienen ihn schon zu kennen. Auch das erstaunte ihn nicht, obgleich er es sich in keiner Weise zu erklären vermochte. Er wußte auch, daß die Frau des Hauses Viola hieß, ohne daß er es wissen konnte. Er wußte es eben!

Frau Viola steckte sich eine Zigarette auf eine schlanke Zigarettenspitze, die vermutlich aus Ebenholz gefertigt war. Viola hielt auch ihm ihr Zigarettenetui hin. Es war aus Silber. Mit einem altpersischen Motiv verziert. Er nahm eine Zigarette. Es war eine filterlose. Das silberne Feuerzeug, mit dem er Viola und sich selbst Feuer gab, fand er in seiner Jackentasche. Er hatte es noch nie gesehen. Dennoch kam es ihm sehr vertraut vor. Er hatte auch genau gewußt, in welcher Tasche es sich befand. Und über nichts von alledem wunderte er sich.

Frau Viola führte ihn an einen runden Mahagoni-Tisch. An diesem saß eine alte Dame allein. Auch sie war gut gekleidet. Ihre grauen Haare wiesen sorgsam gelegte Wellen auf. Die alte Dame hatte einen goldenen Drehbleistift und diverse Utensilien vor sich liegen, die sehr merkwürdig aussahen.

Nun gesellten sich auch andere an den runden Tisch. Die Damen nahmen auf den Stühlen Platz, die Herren blieben hinter ihnen stehen. Er selbst stand hinter dem Stuhl von Viola. Sie mußte ihn für jemanden anderen halten als er war. Er dachte nicht darüber nach. Dafür schien es keine Ursache zu geben. Doch: sehr sonderbar.

Die alte Dame mit den gewellten grauen Haaren war offenkundig die Hauptperson an diesem Abend. Einer der Herren zündete die Kerzen auf einem fünfarmigen Leuchter an. Die elektrische Beleuchtung wurde gelöscht. Auch die Tangomusik spielte nicht mehr. Allein eine einzelne Spanische Gitarre sandte leichte melancholische aber hübsche Melodie in den Raum. Diese Musik war offenbar nicht gemeint, als die alte Dame alle Anwesenden mit strenger Stimme um Stille bat.

Nun begann sie mit einer magischen Handlung. Diese bestand im wesentlichen daraus, daß sie kleine Zeichen auf ein schon beschriftetes und mit einem Bild versehenes Blatt malte, welches vor ihr lag.

Es war nun wirklich sehr still, anscheinend im ganzen Haus. Die Tatsache, daß die melancholische Gitarre leise weiterspielte, ließ die Stille, die sonst überall herrschte, besonders wirksam zum Ausdruck kommen. Frau Viola erhob sich von ihrem Platz und deutete dem Besucher von ungefähr, sich niederzusetzen. Er tat es. Viola zog sich unterdessen in die Dunkelheit des großen Raumes zurück.

Die alte Dame sah ihn mit ihren klaren wasserblauen Augen an. Sie begann zu sprechen. Langsam und ruhig. Und es war als spreche sie allein zu dem einen Gast, der ihr gegenüber saß und der nicht ganz verstand, wieso er hier in dieser Jugendstil-Villa war, welche die „Tango-Villa“ genannt wurde. Und es schien tatsächlich so zu sein, daß die alte Dame jetzt ganz speziell zu ihm sprach, denn sämtliche anderen Gäste waren nicht mehr zu sehen. Diese alle mußten sich in die von den Kerzen nicht erhellten Teile des Zimmers zurückgezogen haben, wie es Frau Viola bereits zuvor getan hatte.

 

Bald war es, als habe die alte Frau gegenüber am Tisch aufgehört zu sprechen, aber auf rätselvolle Weise bewerkstelligt, daß der überraschte Gast die Geschehnisse seines Lebens vor dem inneren Auge an sich vorüberziehen sah. Beginnend mit seinen frühesten Jahren, dann die Schulzeit, das Studium, die ersten beruflichen Schritte. Wie er das Mädchen kennengelernt hatte, das inzwischen seine Frau geworden war. Und immer plastischer wurden die Bilder - nebst all der vielen Gespräche, die stattgefunden hatten in über 30 Jahren. Alles, was wichtig gewesen war in seinem bisherigen Leben, durchlebte er nun abermals. Dieses Wiedererleben ging bis an den Punkt, da er die Treppenstufen der Veranda der Tango-Villa erstieg und einen ersten Blick durch die Fensterscheiben versuchte. Die Tangoklänge vernahm er in diesem Moment noch nicht.

Doch jetzt hörte er die alte Dame wieder klar und in deutlichen Worten sprechen:

Ich habe Ihnen Ihr Leben gezeigt. So, wie es bisher verlief. Ich könnte Ihnen auch manches von dem zeigen, was für noch kommen dürfte. Doch das werde ich nicht tun. Denn Sie befinden sich auf der Hauptlinearen Ihres irdischen Lebens. Das heißt: alles, was noch kommen wird, ist noch nicht sicher bestimmt. Die vagen Linien schon, aber nicht die Einzelheiten. Sogar die Hauptlinie könnte sich noch verändern, falls Sie selbst dementsprechende Weichen stellen sollten. Ich kann nicht sehen, daß dies notwendig wäre. Also dürfte es auch nicht geschehen.

Wissen Sie: auf der Hauptlinearen gibt es keine Vorherbestimmung. Oder wenigstens nur in äußerst geringfügigem Maße. Deshalb vermeide ich es, Menschen, die auf ihrem Weg durch das Irdische sind, Vorhersagen zu geben.

Warum habe ich Ihnen aber gezeigt, was Sie ohnehin kennen? Weil der Mensch in der Lage ist, Dinge zu ändern! Wir alle können ja zurück innerhalb unseres Erdenzeitlaufs, sofern wir es wollen. Die meisten wissen das nicht, aber es ist so. Allerdings: wer zurückgeht, vermag nichts mitzunehmen. Kein Wissen um das Geschehene, auch keine Erkenntnis. Er gelangt also an einen früheren Zeitpunkt seines Erdenwanderns zurück – ohne um dieses zu wissen. Er wird denselben Weg somit ein zweites Mal gehen. Das wäre zu nichts nütze.

Es hat erst dann einen Sinn und kann zweckmäßig sein, wenn der Mensch seinen irdischen Weg abgeschlossen hat. Denn dann bleibt ihm alles erhalten, was er gelernt hat, er behält jede Erfahrung seines Lebens. Dann, ja dann kann er Dinge besser machen, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet – wenn er sie sich schafft.

Versuchen Sie, das zu behalten. Möglich, es wird Ihnen einmal sehr nützlich sein; denn – wer weiß – vielleicht stellen Sie irgendwann eine Lebensweiche falsch. Ich kann das nicht sehen, doch es wäre denkbar. Ich hoffe und wünsche Ihnen, so etwas wird nie geschehen. Doch wer kann es wissen? Vielleicht kommen Tage in denen Sie etwas ändern möchten. Dann kommen Sie wieder!“

Die alte Dame hob eine Hand. Der Brillant und der Smaragd an ihrem Ringfinger fingen den Kerzenschein ein und funkelten. Sie sagte: „Was ich vergaß, Ihnen mitzuteilen – nur eine Kleinigkeit, und dennoch wichtig: Wären Sie heute nicht hier hergefahren, zusammen mit Ihrer Frau, so würden sie vor anderthalb Stunden an jenem Bahnübergang, dessen Schranken versagten, von einer Lokomotive erfaßt und getötet worden sein. Sie werden davon in der Zeitung lesen! Vieles von dem, was uns widerfährt, hat ja doch diesen oder jenen Sinn – nicht alles, aber vieles.“

 

 

Leicht verwirrt stand er auf der Veranda der romantischen Jugendstil-Villa, die man die „Tango-Villa“ nannte. Doch Tangoklänge hörte er nicht. Dieses Haus, das ihm jetzt auf unbestimmbare Weise verändert vorkam, war gänzlich unbewohnt. Offenbar schon seit Jahrzehnten. Durch die schmutzigen Scheiben der Verandatür ließ sich nichts erkennen. Es gab keine weise alte Dame, es gab keine Viola, es gab nichts von alledem, was er soeben leibhaftig gesehen hatte. Hinter dem Haus standen auch keine Automobile. Und es gab all dies doch! Er wußte es – noch zweifelte er daran.

Eine Hupe ertönte. Seine Frau wollte ihm ein Signal geben!

Als er zum Wagen zurückgegangen und eingestiegen war, schnüffelte sie und bemerkte mit kritischem Blick: „Du hast ja doch wieder geraucht!“

Dann stellte sie das Autoradio an. Die nächsten Nachrichten berichteten unter anderem von einem schweren Verkehrsunfall auf dem Bahnübergang in der Nähe. Das lag auf ihrem Weg. – „Ja“, sagte der Mann am Steuer zu der Frau neben sich: „Es stimmt: Ich habe wieder geraucht!“

 

Das war die Kurzfassung einer kleinen Geschichte, die erfunden ist, aber durchaus wahr sein könnte.

       
               
               
     

       
               
               
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