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Rückblick |
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Der Nagant-Revolver |
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Der Nagant-Revolver
und andere Faustfeuerwaffen der russischen Streitkräfte Über den russischen Nagant-Revolver zu sprechen heißt, über ein Stück altes Rußland zu reden, über das „Russische Roulette" mit nur einer geladenen Trommelkammer, über so manche Besonderheit – und über eine der kuriosesten Faustfeuerwaffen, die jemals hergestellt wurden. Der Nagant-Revolver war in technischer Hinsicht ein Kuriosum, praktisch nur eingeschränkt von Wert. Die Waffe war eine Konstruktion der belgischen Firma Nagant. Das Russische Reich erwarb die Lizenz, ihn bauen zu dürfen und führte ihn 1885 bei der Truppe ein. Der russische Nagant-Revolver war die erste Faustfeuerwaffe, die in Rußland hergestellt wurde. Bis dahin bediente sich die Russische Armee des Kipplaufrevolvers von Smith & Wesson im Kaliber .44. Rußland kaufte von S&W in den USA die Lizenz, ließ den „Smith-Wesson-Russian-Revolver" aber in Deutschland bei der Firma Loewe in Berlin herstellen. Man schätzt, es waren etwa 130.000 Stück.
Der S&W-Loewe „Russian" war eine sehr gute Waffe. Ein Single-Action-Revolver. Er war beim ersten Schuß nicht so schnell wie der Colt SAA, was besonders im alten amerikanischen Westen wichtig war, konnte dafür aber schneller nachgeladen werden. Es gab keinen vernünftigen Grund für die russische Armee, ihn auszutauschen. Doch in der damaligen Zeit ging beim Militär in Europa nicht alles bloß um Vernunft. Das Militär war auch eine gesellschaftliche Einrichtung. Die Offiziere wollten „chic" sein – das galt in allen europäischen Ländern gleich. Der S&W „Russian" war groß und schwer. Wo die Ambition bestand, an der Uniform elegant zu wirken, paßte das nicht. Die in so etwas viel vernünftiger denkenden Amerikaner würden eine Ordonnanzwaffe nie nach solchen Kriterien ausgewählt haben. Doch in Europa dachte man anders. Der Nagant-Revolver war relativ klein, beinahe zierlich, und hatte das kleine Kaliber 7,62. Er konnte an den Uniformen der Offiziere angenehm getragen werden. Die Russische Armee war aber so klug, für die an vorderster Front kämpfende Truppe – besonders für die Kosaken – eine hoch leistungsfähige Pistole anzuschaffen, die berühmte Mauser C 96, welche mit langem Magazin als Vorläuferin der Maschinenpistolen anzusehen ist. Die Mauser C 96 was groß, aber auch eine wirksame Waffe; wohl die beste Faustfeuerwaffe ihrer Zeit (auch Winston Churchill kaufte sich eine, als er in die Burenkriege mußte). Die Kosaken legten keinen Wert auf eine „zierliche" Waffe, sie wollten eine gute. Über die C 96 wird später vielleicht noch einmal separat zu sprechen sein. Leider wurde eine solche Waffe auch zur Ermordung der Zarenfamilie verwendet. Der Nagant-Revolver war zwar nicht so vielschüssig wie die ganz anders konstruierte Mauser C 96, aber in seine Trommel paßten sieben Patronen, also eine mehr als bei dem sechsschüssigen Smith & Wesson. Dafür war das Kaliber des Nagant auch deutlich kleiner. Anders als der S&W mit 11,2 mm (0,44 Zoll), hatte die Patrone des Nagant-Revolvers nur ein Kaliber von 7,62 mm. Das entsprach zwar dem der Mauser C 96, doch war die flaschenförmige Munition im Kaliber 7,62/7,63 mm Mauser um vieles stärker und wirkungsvoller (dieses Kaliber und die Mauser-Patrone wurde dann zum Standard in Rußland und in der späteren Sowjetunion). Mauser bot die C 96 aber auch im Kaliber 9 mm an. Der Frage, großes oder kleines Kaliber, lag aber auch die Auffassung zugrunde, die sich in Europa durchgesetzt hatte. Kleine Kaliber haben bei hoher Ladung eine bessere Durchschlagskraft als große. Das hielt man in Europa für wichtiger als Stoppwirkung, wie man in Amerika meinte. So rüstete auch Österreich-Ungarn vom Gasser-Revolver Kal.45 auf den Rast & Gasser 8 mm um, in Frankreich vom .45er St.-Etrenne-Revolver zum 8 mm Lebelle-Revolver (die konstruktiv allerdings viel besser waren als der Nagant, und in Italien ging man vom 44er Glisenti-Revolver zur 7,65 Selbstladepistole von Beretta über. In Deutschland ging man mit dem Kaliber 9 mm einen Mittelweg, auf dem hohe Durchschlagskraft und gute Stoppwirkung sich miteinander verbanden. Aber erst mit dem Erscheinen der berühmten Pistole „08" des Konstrukteurs Georg Luger bei Mauser, welche den Namen „Para bellum" erhielt, setzte sich das Kaliber 9 mm in Gestalt der Patrone „9 mm Para bellum" weltweit durch; es wird inzwischen auch von den US-Streitkräften verwendet. All solche praktischen Erwägungen spielten bei der Anschaffung des Nagant-Revolvers durch die Russische Armee aber keine Rolle. Dabei ging es um das angenehme tragen einer nicht allzu schweren Waffe für adelige Offiziere. Es hat zwar außer der Double-Action-Version für Offiziere auch eine Single-Action-Ausführung für Mannschaften gegeben, doch diese wurde kaum verwendet. Der Nagant-Revolver ist aber in erster Linie aufgrund seiner Konstruktion ein Kuriosum. Mit dem Argument, den Gasdruckverlust beim Übergang der Kugel von der Trommel in den Lauf unterbinden zu wollen, hatte der Konstrukteur die Trommel in einer Feder gelagert. Die Patrone war dergestalt beschaffen, daß die Kugel von einer überlangen Hülse umspannt wurde. Beim Schießen schob sich die Trommel nach vorn und schob somit die Patrone nicht vor, sondern ein Stück in den Lauf. Das führte zu einem enorm hohen Abzugsgewicht. Mit dem Nagant-Revolver zu treffen, war beinahe unmöglich. Nach der sowjetischen Revolution wurden Nagant-Revolver vor allem an die berüchtigten kommunistischen Polit-Kommissare ausgegeben. Diese benötigten ihre Waffen fast nur für Genickschüsse, und bei solchen war auch mit einem Nagant kaum daneben zu treffen. Der Nagant-Revolver war als Waffe also kein großer Wurf. Der enorm schwere Abzug war unangenehm, und außerdem brach der konstruktiv bedingt überlange Schlagbolzen häufig ab. Wie viele in Rußland hergestellt wurden, ist nicht bekannt. Bis Ende des Zweiten Weltkriegs blieb diese Waffe jedoch in Verwendung. In Rußland, bzw. der Sowjetunion, ist nie eine eigenständig entwickelte Faustfeuerwaffe entstanden. Im Zweiten Weltkrieg kam die Tokarew-Pistole zum Einsatz, ein verkleinerter und vereinfachter Nachbau der Colt-Pistole Modell 1911, und nach dem Krieg wurde dann unter der Bezeichnung Makarow eine nicht sonderlich gelungene Kopie der Walther PPK in der vormaligen Sowjetunion gebaut. Angemerkt sei, daß wir die beiden vorstehenden Namen bewußt mit „w" am Ende schreiben, nicht mit „v", wie in angelsächsischen Ländern üblich, denn im Russischen, das heißt in der kyrillischen Schrift, gibt es den Buchstaben „V" nicht, wohl aber das „W". Der Nagant-Revolver war also ein Unikum – als Waffe nur begrenzt brauchbar, für Sammler aber ein Stück zum Aufheben. Als gegen Ende des Zweiten Weltkriegs amerikanische Soldaten nach Deutschland einmarschierten, und bei einigen deutschen Kriegsgefangenen Nagant-Revolver erblickten, welche diese als Andenken aus der damaligen Sowjetunion mitgebracht hatten, amüsierten sie sich köstlich über die Nagant-Konstruktion und deren ebenso umständlichen wie unnötigen Versuch, Gastduckverlust zwischen Trommel und Lauf zu vermeiden. Für Freunde origineller historischer Waffen ist der russische Nagant-Revolver eine Besonderzeit, über die man sich freut, wenn man sie sieht. |
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