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Die Jahresrosen
Nimm eine Rose in
jedem Jahr –
so sagte die Mutter zur Tochter –
hänge sie auf, mit der Blüte nach unten,
so wird sie, so schön wie sie ist, trocknen,
aber nicht vergehen!
In jedem Jahr tue es so,
jeweils mit einer einzelnen Rose;
und alles, was gut und schön war in deinem Leben,
wird niemals gänzlich vergehen,
wie die Jahresrose, die für immer bleibt.
Sammle diese Rosen in einer Vase,
in einer aus Glas oder aus Porzellan.
Doch gib in diese kein Wasser,
denn deine Jahresrosen brauchen es nicht.
Erst wenn es Ursache gibt zu erwecken,
was schon vergangen zu sein scheint –
dann halte die Rosen – oder die einen bestimmten Jahres –
über dampfendes Wasser,
und fülle ihr anschließend eine Vase mit kühlem.
Und dann glaube daran, daß geschieht –
was unglaublich erscheint!
Das Mädchen wunderte
sich,
es fiel ihm schwer zu glauben,
was die Mutter gesagt hatte.
Doch es tat so, wie diese es hatte geraten.
Und die getrockneten Rosen blieben
tatsächlich schön.
Die Zeit schritt
voran.
Immer mehr Jahresrosen sammelten sich in der
Vase.
Es sah aus, als würden diese noch blühen.
Das täuschte natürlich, denn die Blumen
waren getrocknet.
Keine Biene würde sich ihnen nahen,
hätten die Rosen im Garten gestanden.
Es gab mittlerweile
viele solcher Rosen in der Vase.
Keine sah älter aus als die andre,
und doch lagen Jahre zwischen ihnen.
Diese Jahre hatten viele Erlebnisse gebracht;
frohe wie traurige.
Und es kam der Tag, an
dem das Mädchen –
nun längst eine erwachsene Frau –
sehnsuchtsvoll an das dachte,
was einst ihr die Mutter versprach.
An jede der Rosen war ein kleines Schildchen
gebunden,
die Zahl des Jahres darauf, aus der sie
stammte.
Sie setzte sich an den
kleinen Tisch dicht beim Fenster,
auf welchem die Rosen in ihrer Vase standen.
Draußen wirbelten Schneeflocken aus grauem
Winterhimmel.
Der Wind ließ manche von ihnen gegen die
Scheiben springen,
als wollten sie ins Innere des Hauses hinein.
Die Rosen, so schien
es, sahen dem Schneetreiben zu,
als wüßten sie genau, was geschieht –
und als ahnten sie mit bewußten Geist,
was gleich geschehen sollte.
Das Mädchen, das
längst erwachsen war,
wußte es nicht – noch nicht.
Aber ein Wünschen war da, ein sehr starkes,
das Unglaubliche möge sich wirklich ergeben,
obschon sie es sich nicht vorstellen konnte.
Vierundzwanzig Rosen
gab es da nun.
Sie nahm nicht die des ersten Jahrs,
sondern die des dritten.
Das war das Jahr gewesen, in dem ihr Geliebter
dahinging,
im Eis eines Gletschers geblieben,
als er allein einen Berg besteigen wollte.
Alle rieten ihm davon ab. Das Wetter war rau.
Doch die Kühnheit der Jugend trieb ihn voran.
Jetzt mußte sie so
stark daran denken –
erneut zum ungezählten Mal.
Das Schneetreiben vor den Fenstern
machte den
Gedanken ganz nahe.
Irgendwo, in Schnee und Eis,
niemals gefunden, war der Geliebte geblieben.
Sie nahm die dritte
Rose und tat genau,
wie vor langer Zeit sie’s gehört.
Und wahrlich: es schien,
als kehre die Rose zurück in ihr Jahr!
Dieses selbst aber wollte wohl in der
Vergangenheit bleiben?
Am nächsten Tag
klingelte das Telefon.
Eine unbekannte Stimme sprach,
in einem eiskalten Bach sei gefunden worden
ein Bergsteiger, der vor Jahren verschwand.
Er sähe aus, als sei es erst gestern gewesen.
Sie brach auf, noch am
selben Tag,
um an jenen Ort in den Alpen zu fahren.
Ihr war, als verändere sie sich unterdessen.
Und vieles veränderte sich ebenso.
Ihren Geliebten fand
sie in einem Spital,
verletzt, aber nicht fern der Genesung.
Sie selbst hatte den Ort des Unfalls wohl nie
verlassen -
so erschien es ihr – und so war es
tatsächlich!
Das Unglaubliche, war die Wirklichkeit!
Als sie beide jung und
gesund heimkehrten in das Haus,
befanden sich im Gefäß der Jahresrosen nur
noch zwei,
dazu die dritte in einer eignen Vase.
Die anderen einundzwanzig Rosen der Zeit,
hatte es noch nicht gegeben.
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