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Rundblick |
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EU-Recht, Asyl- und Eurokrise |
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EU-Recht, Asyl- und EurokriseWenn Verträge und Richtlinien in der Praxis nicht umsetzbar sind, muss die Politik andere Lösungen finden, auch wenn es Juristen nicht gefällt Der Rechtsexperte Manfred Nowak hat auf meinen Kommentar, in dem ich das Primat der Politik gegenüber dem Völkerrecht bei der Festlegung einer Obergrenze für Flüchtlinge betonte, mit einem Gastkommentar geantwortet. Darin verwies er – ebenso wie in der "ZiB 2" am Dienstagabend – auf einschlägige EU-Bestimmungen wie die Asylverfahrensrichtlinie und die Qualifikationsrichtlinie, die EU-Staaten gar keine Wahl lassen, als jedem Asylwerber ein rechtsstaatliches Verfahren zu gewähren. Auf dem Papier hat Nowak natürlich recht. Die Richtlinien setzen die Genfer Flüchtlingskonvention um und gehen noch darüber hinaus. Wer sie liest, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Tatsächlich hat jeder Mensch, der sein Heimatland verlassen hat und sich politisch oder anderswie verfolgt fühlt, ein theoretisches Anrecht auf ein Asylverfahren und angemessene Unterbringung und Verpflegung in jedem der 28 EU-Staaten. "Asyl" zu sagen reicht Wer an der österreichischen Grenze steht und "Asyl" sagt, muss demnach aufgenommen werden, selbst wenn er über sichere Drittländer gereist ist – und möglicherweise nicht mehr abgeschoben werden kann, selbst wenn ihm nach vielen Monaten Asyl verwehrt wird. Diese Verpflichtung gilt für zehn Personen genauso wie für zehn Millionen. Das haben die Staaten bei der Verabschiedung wohl nicht bedacht, aber so steht es in den Richtlinien. Derzeit aber halten sich gerade zwei von 28 EU-Staaten – nämlich Deutschland und Österreich – an diese Vorschriften, und Österreich will bei Erreichen des "Richtwerts" im Frühjahr ebenfalls die Einhaltung beenden. Das ist ein massiver Rechtsbruch auf dem gesamten Kontinent, der eigentlich – wenn man Völker- und EU-Recht als klar, bestimmt und immer verbindlich ansieht, wie es Nowak und andere Rechtsexperten tun – gravierende Folgen nach sich ziehen müsste. Warum tun EU-Kommission und EuGH nichts? Die EU-Kommission müsste als Hüterin der Verträge Vertragsverletzungsverfahren gegen praktisch alle Staaten einleiten, und über Vorlagen der nationalen Gerichte, die diese Rechtsvorschriften ebenso kennen, müssten bald Fälle dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) übermittelt werden, der all diese Staaten dann verurteilen müsste. Doch davon ist derzeit nichts zu hören, und es rechnet auch niemand mit dieser großen Klage- und Verurteilungswelle. Der EuGH würde sich hüten, Regierungen zu etwas zu zwingen, was auf massiven Widerstand bei der Bevölkerung stoßen und deshalb nicht umgesetzt werden würde. Eine unbegrenzte Aufnahme von Asylwerbern, von denen immer weniger politische Verfolgung nachweisen können, ist für kein Land akzeptabel. Anders als die meisten Völkerrechtler kennen Europarechtsexperten die politische Flexibilität der EU-Kommission und des EuGH und sind sich der Grenzen der Durchsetzung gewisser Aspekte der europäischen Verträge und Vereinbarungen bewusst. Man muss sich nur anschauen, wie viele Vorschriften des Binnenmarkts in vielen EU-Staaten nicht oder nur ungenügend umgesetzt sind. Eurorettung verstieß gegen die EU-Verträge Die Kluft zwischen Rechtsnorm und Realität beim Asylrecht erinnert an die Situation in der Eurozone seit 2010. Ein Großteil der Maßnahmen, die zur Rettung des Euro von Regierungen und der Europäischen Zentralbank (EZB) unternommen wurden, verstößt gegen den Wortlaut und Geist des Maastricht-Vertrags und der EZB-Statuten. Die verbieten dezidiert den Ankauf von Staatsanleihen, um ein Euroland vor dem Staatsbankrott zu bewahren. Und die "No Bailout"-Regel untersagt sogar, dass Staaten einander unter die Arme greifen. Deutsche Juristen und Ökonomen beklagen diesen anhaltenden Rechtsbruch seit Jahren und fordern eine Rückkehr zur Vertragstreue. Aber als eine solche Klage des ehemaligen CSU-Politikers Peter Gauweiler gegen die EZB über das deutsche Bundesverfassungsgericht beim EuGH landete, wurde sie von den Europarichtern 2015 abgewiesen. Ihnen war das Überleben der Eurozone wichtiger als die Rechtstreue. Ich kenne Nowaks Einstellung zum Euro nicht, vermute aber, dass er als überzeugter Europäer die Hilfe für die Euro-Krisenstaaten grundsätzlich als richtig empfunden hat. Schwierige Anpassung des Rechts Wie kann das sein? Schließlich soll die EU ein Hort der Rechtsstaatlichkeit sein. Aber wenn das Recht nicht mehr zur Realität passt, weil die Gesetzgeber die Szenarien der Zukunft falsch vorausgesehen haben, dann taugt es auch nicht mehr zur Lösung der anstehenden Probleme. Im Nationalstaat kommt es dann zu raschen Gesetzesnovellen, wie jetzt etwa beim österreichischen Asylrecht. Doch auf der EU-Ebene sind Änderungen zeitaufwendig, schwierig und, wenn sie die Verträge betreffen, oft sogar unmöglich. Dann wird das Recht gedehnt, gebogen und auf Löcher durchsucht, bis es den politischen Anforderungen des Augenblicks halbwegs entspricht. Für puristisch denkende Juristen ist das ein Gräuel, für andere gehört es zum Tagesgeschäft. Internationale völkerrechtliche Vorschriften sind noch weniger verbindlich als EU-Richtlinien. Verletzungen werden nur im Extremfall sanktioniert, und sie können noch viel weniger geändert werden. Die Genfer Flüchtlingskonvention ist seit 1967 unverändert, und die letzte größere Änderung im Völkerrecht war die Einführung der "Responsibility to Protect" (R2P oder Schutzverantwortung) im Jahr 2005. Staaten können aussteigen, Bürger nicht Es gibt noch einen weiteren Grund, warum auch das EU-Recht nicht die gleiche Verbindlichkeit hat wie nationale Rechtsnormen. Ein Bürger oder ein Unternehmen, dem die Gesetze nicht gefallen, muss sie dennoch akzeptieren und befolgen. Aber eine zukünftige Präsidentin Marine Le Pen könnte mit einer Mehrheit des Front National im Pariser Parlament Frankreich aus der Eurozone und der gesamten EU herausführen – und niemand von außen könnte sie stoppen. Solche Entwicklungen wollen europäische Politiker und Juristen unter allen Umständen verhindern. Deshalb haben Nowak und Co recht, dass in der EU Obergrenzen oder verbindliche Richtwerte für Asylanträge rechtlich eigentlich nicht zulässig sind. Aber politisch sind sie es. Und Europa bleibt ein politisches Projekt, das sich in der realen Welt bewähren muss – und nicht im Elfenbeinturm der Völkerrechtler. (Eric Frey, 28.1.2016) - derstandard.at/2000029834943/In-der-Asyl-und-Eurokrise-hat-EU-Recht-nicht-das-letzte-Wort. |
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